a.Sozialstaatsgebot nach Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG
Wie bereits erwähnt ist es Aufgabe des Sozialstaates, die gleichberechtigte Teilhabe Schwerbehinderter am Leben in der Gesellschaft zu fördern und einer Benachteiligung entgegenzuwirken. Die verfassungsrechtliche Grundlage dazu liegt im Sozialstaatsgebot. Dieses Gebot ist ein Prinzip staatlicher Verantwortung für die ganze Gesellschaft im Gegensatz zu einem nur punktuell oder nicht intervenierendem Staat. 121Es gebietet dem Staat für Einzelne oder Gruppen der Gesellschaft, Vorsorge und Fürsorge zu leisten, wenn sie aufgrund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligung, insbesondere wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen, in ihrer Selbstbestimmung behindert sind. 122Als Mittel zu Erreichung dieser Ziele dient die Rechtsgestaltung. Durch Förderung, Lenkung und Zwang wahrt der soziale Rechtsstaat letztlich seine Verantwortung im Ganzen. 123Im Ergebnis soll im sozialen Rechtsstaat eine soziale Gerechtigkeit für alle Bürger geschaffen werden 124, die es vor allem auch im Bereich des Arbeitslebens zu erreichen gilt. Gerade dort muss der soziale Rechtsstaat regulierend in die Privatrechtsgestaltung eingreifen, weil eine Integration allein mit staatlichen Einrichtungen und Mitteln des öffentlichen Rechts im Arbeitsleben nicht möglich ist. 125Bei der Erfüllung des Sozialstaatsprinzips geht es zum einen um die materielle Verteilungsgerechtigkeit, aber zum anderen auch um die Gestaltung einer Ordnung an und in der jeder teilnehmen kann. 126Zentrum ist dabei das Bestreben des Staates, allen Menschen die Möglichkeit der tatsächlichen Wahrnehmung ihrer Freiheitsgrundrechte zu ermöglichen. 127Formal stehen die Freiheitsgrundrechte zwar jedem Menschen zu, die tatsächliche Wahrnehmungsmöglichkeit kann allerdings infolge einer Behinderung stark eingeschränkt sein, wie etwa bei Art. 12 Abs. 1 GG, dem Freiheitsgrundrecht, das gewährleistet, dass jeder seinen Beruf sowie seine Ausbildungs- und Arbeitsstätte frei wählen und den gewählten Beruf ausüben kann. Ein behinderter Mensch kann beispielsweise seinen gewünschten Beruf nicht ausüben, wenn sein Arbeitsplatz nicht leidensgerecht gestaltet wird. Dieser Grundzusammenhang zwischen dem Sozialstaatsgebot und der Realisierung von Freiheitsgrundrechten ist für die Auslegung des SGB IX, das das Sozialstaatsgebot mit der Gewährung sozialer Rechte konkretisiert, von großer Bedeutung. 128Es ist also Aufgabe des sozialen Rechtsstaates, die tatsächlichen Möglichkeiten der Grundrechtswahrnehmung den formalen anzugleichen. Die arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen des SGB IX greifen zu diesem Zweck zwar in das Arbeitsverhältnis gestaltend ein, im Ergebnis müssen aber die Interessen und Freiheitsgrundrechte des Arbeitgebers genauso wie die des Arbeitnehmers möglichst weitgehend verwirklicht werden. 129
b.Benachteiligungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG
Bei der möglichst weitreichenden Gewährung der Freiheitsgrundrechte hat der Gesetzgeber allerdings gleichzeitig zu beachten, dass er auch dem Gleichheitsgrundrecht verpflichtet ist und damit Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln muss. Allerdings ist für das Merkmal der Behinderung von der Verfassung nur die benachteiligende, nicht aber die bevorzugende Ungleichbehandlung ausgeschlossen, so dass eine kompensatorische Bevorzugung von behinderten Menschen grundgesetzlich unbedenklich ist. 130Ein individuelles Abwehrrecht gegen Benachteiligungen Behinderter besteht nach ganz überwiegender Auffassung in dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, das im Jahr 1994 131ergänzt wurde. Es veranschaulicht die staatliche Aufgabe des besonderen Schutzes von behinderten Menschen. 132Im Rahmen dieses Förderungsauftrags kann der Gesetzgeber auch Normen schaffen, die eine Gleichbehandlung behinderter Menschen im Privatrechtsverkehr verlangen, um so die Möglichkeit gleicher Chancenwahrnehmung zu gewährleisten. 133Adressat des Gleichheits-grundsatzes bleibt dabei der Staat, der ihn aber im Rahmen seiner sozialen Gestaltungsaufgabe durchsetzen kann. 134So hat das Prinzip der sozialen Gleichheit behinderter Menschen auch im Zivilrecht mittelbare Drittwirkung. 135Zwar ist das privatrechtliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer grundsätzlich von der Privatautonomie geprägt - greift der Gesetzgeber hier aber nicht korrigierend und gestaltend ein, so bleibt eine Vielzahl von Menschen vom Wirtschafts- und Arbeitsleben ausgeschlossen. 136Der Sozialstaat übernimmt diesbezüglich eine Verantwortung, damit Menschen aus gesundheitlichen Gründen gerade nicht an der Teilhabe ihrer Rechte gehindert sind. 137Da sich im Privatrechtsverkehr typischerweise zwei Grundrechtsträger gegenüberstehen, findet der Behindertenschutz in den gegenläufigen Grundrechten anderer Privatrechtssubjekte eine Schranke. 138Dabei ist es auch die Aufgabe des Gesetzgebers, möglichen Konflikten gerecht zu werden, die entstehen können, wenn die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers auf der einen Seite mit dem Beschäftigungsanspruch des behinderten Arbeitnehmers auf der anderen Seite konkurriert. Ziel muss es dabei sein, die Freiheitsrechte aller im Wege der praktischen Konkordanz möglichst weitreichend zu gewährleisten. 139
Der zweite Teil des SGB IX, der vornehmlich arbeitsrechtlich geprägt ist, überführt mit den dortigen Regelungen das in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verankerte Benachteiligungsverbot in das privatrechtliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. 140Es ist längst unumstritten, dass sozialrechtliche Regelungen, die eine gleiche Teilhabe aller am Arbeitsleben durch öffentlich-rechtliche Maßnahmen durchsetzen wollen, mit der Privatautonomie in Einklang stehen. 141Schließlich sind Eingriffe des Sozialstaats in privatrechtliche Rechtsverhältnisse bereits seit langem üblich, wie beispielsweise im Mietrecht. Seit dem Ersten Weltkrieg besteht dort für Mieter ein weitgehender Kündigungsschutz, um die tatsächlich ungleichen Machtverhältnisse der formal gleichen Rechtssubjekte im Privatrecht auszugleichen. 142
C.Öffentlich-rechtliches Arbeitsschutzrecht als Schranke des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts
Insgesamt sichert die Verfassungsgarantie des Selbstbestimmungsrechts die Freiheit der Religionsgemeinschaften innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung. 143Teil dieser gesellschaftlichen Ordnung ist das staatliche Arbeitsrecht und das Arbeitsschutzrecht, das die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis nach Maßgabe des staatlichen Gesetzgebers gesetzlich festlegt. Es ist nun zu prüfen, ob und wie die Kirche als Arbeitgeber an diesen Normen der gesellschaftlichen Ordnung teilhat.
In der in Art. 137 Abs. 3 WRV verankerten Gewährleistung des Staates, die Kirche dürfe ihre eigenen Angelegenheiten selbständig regeln, steckt im Kern die Zusage des staatlichen Gesetzgebers, dass er die Regelungszuständigkeit der Gesetzgeber der Religionsgemeinschaften für diese Bereiche anerkennt. Diese Anerkennung der Eigenständigkeit bedeutet im Umkehrschluss die Einsicht, dass der staatliche Gesetzgeber selbst in diesem Zusammenhang auf die Regelung weltlicher Bereiche beschränkt ist. 144Wie bereits erwähnt gehört das kirchliche Dienst- und Arbeitsverhältnis zu den eigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften i.S.v. Art. 137 Abs. 3 WRV, so dass sie dieses wegen ihres garantierten Selbstbestimmungsrechts innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnen und verwalten können. 145Gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV ist den Religionsgesellschaften zudem der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts garantiert, der es ihnen ermöglicht, ihre Dienstverhältnisse nach öffentlichrechtlichen Grundsätzen zu ordnen, ohne dabei den Normen des staatlichen Arbeitsrechts zu unterliegen. 146Es steht ihnen jedoch auch frei, sich der jedermann offenstehenden Privatautonomie zu bedienen, um ihre Dienstverhältnisse zu begründen und zu regeln, was bei dem überwiegenden Teil der kirchlichen Mitarbeiter auch so erfolgt. Die Kirchen bedienen sich der Gestaltungsformen des staatlichen Arbeitsrechts. Ausgenommen sind davon grundsätzlich Geistliche, da diese nicht kraft eines Arbeitsvertrages, sondern entsprechend ihrem Amt bei der Kirche beschäftigt sind, nachdem sie durch die Priesterweihe ihre Funktion erlangt haben. 147Auf sie findet das staatliche Arbeitsrecht keine Anwendung. Ob in den anderen Fällen das staatliche Arbeitsrecht insgesamt und damit auch die Arbeitsschutzvorschriften als Teilbereich des Arbeitsrechts im kirchlichen Bereich Geltung erlangen, wie weit eine mögliche Schranke des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts greift und was im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung gilt, wird im folgenden Abschnitt ausführlich erörtert.
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