Aus gesetzesauslegenden Verwaltungsvorschriften kann sich nach der Rechtsprechung des BVerwG 109keine anspruchsbegründende Selbstbindung der Verwaltung ergeben.
62In welchem Maße den normkonkretisierenden VwV eine eingeschränkte unmittelbare Außenwirkung zukommt, wurde in der Vergangenheit kontrovers in der Fachwelt diskutiert. Wenig strittig war aber, dass diesen VwV eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Im Rahmen des technischen Sicherheitsrechts hat das BVerwG zunächst mit der Rechtsfigur des sog. „antizipierten Sachverständigengutachtens“ gearbeitet. 110Nunmehr neigt die Rechtsprechung 111dazu, unter bestimmten Voraussetzungen davon auszugehen, dass diesen VwV eine unmittelbare Außenwirkung zukommt. So beschränkt das Gericht den Anwendungsbereich auf das Umwelt- und Technikrecht. Zudem muss die normkonkretisierende VwV höherrangige Gebote und Wertungen beachten. Zudem muss diese VwV in besonderen Verfahren unter Mitwirkung von sachverständigen Kreisen ergehen. Auch darf sie den Erkenntnisfortschrift in Wissenschaft und Technik nicht außer Acht lassen. 112
Bisher hat das Gericht es offengelassen, ob hinsichtlich der Verbindlichkeit ein Unterschied zwischen einer normkonkretisierenden VwV und einer VwV als antizipiertem Sachverständigengutachten besteht. Im Ergebnis dürfte kein großer Unterschied bestehen. Das Gericht sieht regelmäßig nur bei einem besonders gelagerten Ausnahmefall die Notwendigkeit zur Abweichung. 113
63Anders ist es dort, wo die Behörde einen Ermessensspielraum hat und sich eigene Richtlinien für die Ausübung ihres Ermessens gegeben hat. Durch die Selbstbindung der Verwaltung wird praktisch die Außenwirkung begründet. Die Selbstbindung entsteht durch (1) die ständige Verwaltungspraxis und (2) den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 I GG). Die VwV sind dann Ausdruck der gleichmäßigen Verwaltungspraxis, die es verbietet, ohne sachlichen Grund 114von ihnen abzuweichen. 115
Beispiel:
Die Stadt H will die Solarenergie fördern und verabschiedet eine Förderrichtlinie [keine Satzung]. Die Förderung beträgt maximal 5.000 € pro Antragsteller, sofern entsprechende Haushaltsmittel zur Verfügung stehen. In diesem Jahr wurden sieben Förderungsanträge gestellt. Es stehen ausreichende Fördermittel zur Verfügung. Die Stadt bewilligt sechs Anlagen und versagt dem letzten Antragssteller die Bewilligung mit dem Hinweis auf den Freiwilligkeitscharakter der Leistung und dem laufenden Streitverfahren über die Kanalausbaubeiträge. Diese Entscheidung ist fehlerhaft, da sie dem Gleichheitsgrundsatz widerspricht.
Dem Bürger ist es jedoch verwehrt, sich mit Erfolg auf eine Verletzung der VwV zu berufen. Er kann aber geltend machen, dass die Abweichung von der ansonsten angewandten VwV zu einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz führt. Damit führt nicht die VwV, sondern deren Anwendung zur Außenwirkung.
64Eine den Verwaltungsvorschriften entsprechende Verwaltungsübung braucht aber nicht unbedingt vorzuliegen. Eine Selbstbindung der Verwaltung wird nämlich bereits in dem Erlass einer Verwaltungsvorschrift gesehen mit der Folge, dass bereits im ersten Anwendungsfall nach der Verwaltungsvorschrift zu verfahren ist.
Beispiel:
Der Rat einer Stadt beschließt, bis zu 10.000 € Baukostenzuschuss im Einzelfall an Bauherrn zu zahlen, die alte Bausubstanz sanieren. Ziel ist es, ortsbildprägende Gebäude zu erhalten. Zugleich werden entsprechende Richtlinien für die Verwaltung verabschiedet und im Haushaltsplan Mittel bereitgestellt. Der erste Antragsteller, der die Voraussetzungen für einen Baukostenzuschuss erfüllt, hat aus Art. 3 GG i. V. mit der Verwaltungsvorschrift Anspruch darauf, dass er ihm gewährt wird.
65Wenn auch die Verwaltungsvorschriften allein keinen Rechtsnormcharakter haben, so sind sie doch wegen ihrer verwaltungsinternen Bindungswirkung sozusagen vorweggenommene Verwaltungsübung und unterstehen als solche dem Gleichheitssatz. Dieser verbietet es, von der vorweggenommenen Verwaltungspraxis – also hier von der Verwaltungsvorschrift – wegen der Gleichbehandlung aller abzuweichen. Es tritt daher eine Selbstbindung der Verwaltung nicht nur durch gleichmäßige Anwendung einer Verwaltungsvorschrift (= Verwaltungsübung), sondern – über Art. 3 GG – durch die Verwaltungsvorschrift selbst ein. Dadurch entsteht eine ähnliche Bindungswirkung wie bei Rechtsnormen. Die Selbstbindung des Ermessens durch Verwaltungsvorschriften geht jedoch nicht so weit, dass sie jegliche Ermessensausübung beseitigt, denn Verwaltungsvorschriften sind nicht stets verbindlich; von ihnen kann, sofern die besonderen Umstände des Einzelfalls dies rechtfertigen, abgewichen werden, ohne dass sie zuvor entsprechend geändert werden müssten. Weicht die tatsächliche Verwaltungspraxis dagegen von der vorhandenen VwV ab, so ist die geübte Verwaltungspraxis maßgeblich. 116
Auch hat der Bürger keinen Anspruch auf Gleichbehandlung, wenn eine Verwaltungsentscheidung aufgrund einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis getroffen wurde oder aber die vorhandene VwV im Widerspruch zur Rechtsordnung steht. Es gibt keinen Anspruch auf Fehlerwiederholung („keine Gleichheit im Unrecht“). 117
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66aBeachte:
Im Gegensatz zu Rechtsverordnungen, die delegiertes Außenrecht darstellen, handelt es sich bei übergreifenden VwV um administratives Innenrecht. 118
3.7Das Verwaltungsrechtsverhältnis
3.7.1Begriff und Bedeutung
67Ein Verwaltungsrechtsverhältnis entsteht, wenn sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer Rechtsnorm des Verwaltungsrechts rechtliche Bindungen zwischen (mindestens) zwei Rechtssubjekten ergeben. 119Verwaltungsrechtsverhältnisse können insbesondere durch Verwaltungsakt, verwaltungsrechtlichen Vertrag (siehe Tz. 4.11) und schlichtem Verwaltungshandeln entstehen.
Praktische Bedeutung erlangt das Verwaltungsrechtsverhältnis beim verwaltungsgerichtlichen Verfahren. So geht es bei einer Feststellungsklage (§ 43 VwGO) um das Bestehen oder Nichtbestehen eines (Verwaltungs-) Rechtsverhältnisses. Auch können die Rechtsbeziehungen zwischen der öffentlichen Hand einerseits und dem Bürger andererseits von unterschiedlicher Qualität sein. Die Rechtsfigur des Verwaltungsrechtsverhältnisses erleichtert hier die Differenzierung (RdNr. 98 f.). Ferner ist das Verwaltungsrechtsverhältnis eng mit dem subjektiven öffentlichen Recht verbunden. Es ist in gewissem Maße Folge aber auch Voraussetzung subjektiver Rechte.
68Es wird zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Verwaltungsrechtsverhältnis 120unterschieden. Das allgemeine Verwaltungsrechtsverhältnis erfasst die sogenannte normale Bürger-Staat-Beziehung.
Beispiele:
a) Die Behörde fordert den Eigentümer, gestützt auf § 79 I NBauO auf, eine baufällige Garage zu beseitigen.
b) Die Gemeinde schließt mit einem Bauherrn einen sog. Stellplatzablösevertrag.
c) Das Sozialamt fordert den Antragsteller auf, seine Vermögensverhältnisse offen zu legen.
d) Das Finanzamt fordert die Begleichung der KFZ-Steuer.
Viele Personen stehen zum Staat darüber hinaus in einer deutlich engeren Beziehung. Zu nennen sind hier beispielsweise Beamte, Soldaten, Schüler und Strafgefangene. Die hier begründeten besonderen Verwaltungsrechtsverhältnisse dienen der Erreichung bestimmter Zwecke. Sie zeichnen sich durch gesteigerte Rechte und Pflichten aus. Das BVerfG 121hat frühzeitig klargestellt, dass es sich beim besonderen Verwaltungsrechtsverhältnis nicht um einen rechtsfreien Raum handelt.
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69aDie zeitliche Wirkung konkreter Verwaltungsrechtsverhältnisse kann unterschiedlich sein. Es wird daher zwischen
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