50So bestimmt der Anwendungsvorrang, dass grundsätzlich die rangniedrigste Vorschrift heranzuziehen ist, wenn die streitige Frage in Rechtsquellen unterschiedlicher Rangstufe (RdNr. 53) widerspruchsfrei geregelt ist. 83
Beispiele:
Das Kommunalverfassungsrecht bestimmt, dass Mitglieder der Vertretungskörperschaft gewählt werden. In Niedersachsen eröffnet § 7 NKWG (= Parlamentsgesetz) unter bestimmten Voraussetzungen die Einrichtung von Wahlbereichen. Bei der Abgrenzung von Wahlbereichen sind auch die örtlichen Verhältnisse zu beachten. Die maßgebliche Rechtsverordnung (§§ 3 ff. NKWO) enthält nun detaillierte Vorgaben für die Wahlbereichseinteilung. Die NKWO ist nun vorrangig vor den NKWG anzuwenden. 84
51Treffen dagegen Normen mit (inhaltlich) widersprechenden Regelungen aufeinander, so muss geklärt werden, welche Norm vorrangig ist (sog. Geltungsvorrang). Nachfolgende Kollisionsregelungen helfen, die Konflikte zu lösen:
– Bundesrecht bricht Landesrecht (Art. 31 GG). Dabei ist es unerheblich, um welche Art der Rechtsquelle es sich handelt. Damit geht beispielsweise eine Bundesrechtsverordnung einer abweichenden Bestimmung eines formellen Landesgesetzes oder gar einer Landesverfassung vor.
– Die ranghöhere Norm derselben juristischen Person des öffentlichen Rechts geht der rangniedrigeren Norm vor. Die widersprechende rangniedrigere Norm ist nichtig.
– Bei widersprechenden Normen gleicher Rangstufe verdrängt die später erlassene Norm die ältere Vorschrift. 85
– Eine besondere Funktion kommt dem Spezialitätsgrundsatz zu. Die spezielle Regelung verdrängt das allgemeine Gesetz.
Beispiele:
a) Ein ehemaliger Polizist ist gewerbsmäßig als Grundstücksmakler tätig. Er beschäftigt in seinem Betrieb zwei Mitarbeiter. Es fehlt für diesen Betrieb aber die nach § 34c GewO erforderliche Erlaubnis. Um diesen ordnungswidrigen Zustand zu beseitigen, kann die zuständige Behörde nach § 15 II 1 GewO die Schließung der Einrichtung anordnen. Damit werden (mögliche) Eingriffsnormen des allgemeinen Ordnungsrechts verdrängt.
b) Die Überprüfung eines genehmigten Bewachungsgewerbes (§ 34a GewO) ergab, dass der Gewerbetreibende eine unzuverlässige Person mit der Durchführung von Bewachungsaufgaben beauftragt hat. Die zuständige Behörde kann die Beschäftigung dieser unzuverlässigen Person untersagen (§ 34a IV GewO).
51aDie Einordnung einer Rechtsquelle in das System der Rangordnung hat auch prozessuale Auswirkungen. So kann nach § 137 I Nr. 1 VwGO die Revision regelmäßig nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf einer Verletzung von Bundesrecht beruht. 86Dagegen ist ein sog. abstraktes Normenkontrollverfahren – neben bestimmten Satzungen (vgl. § 47 I 1 Nr. 1 VwGO) nur bei Rechtsvorschriften zulässig, die unter dem Rang eines Landesgesetzes stehen und wenn dies das Landesrecht vorsieht (§ 47 I 1 Nr. 2 VwGO 87).
Eine gewisse Relativierung erfahren die vorstehenden Kollisionsregelungen durch Art. 72 III und Art. 80 IV GG. So berechtigt das Grundgesetz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Länder, in ausgewählten Rechtsbereichen Regelungen zu erlassen, die vom Bundesrecht abweichen. Soweit durch Bundesgesetz oder aufgrund von Bundesgesetzen Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, sind die Länder auch zu einer Regelung auch durch Gesetz befugt.
Ändert der Gesetzgeber eine Rechtsverordnung durch ein Parlamentsgesetz, so erlangt die geänderte Rechtsverordnung keinen Gesetzesrang. 88
52Eine zunehmend gewichtigere Funktion kommt dem Recht der EU zu. Von besonderer Bedeutung ist die Frage, in welchem Verhältnis das Recht der europäischen Union zum nationalen Recht steht. Die Grundregel für das Rangverhältnis wurde bereits 1964 vom EuGH entwickelt. Danach genießt das Unionsrecht Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht. 89Das Gemeinschaftsrecht entfaltet damit gegenüber dem nationalen Recht rangunabhängig eine Sperrwirkung. Soweit deutsches Recht unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht ist, kommt es im Einzelfall nicht zur Anwendung. Diese Kollision begründet aber keine Nichtigkeit des nationalen Rechts. 90
53
3.5Normprüfungs- und Verwerfungskompetenz
53aVon der Frage, in welchem Rangverhältnis die Rechtsquellen stehen, ist die Frage zu unterscheiden, wem die Befugnis zukommt, die Vereinbarkeit einer Rechtsnorm mit höherrangigem Recht zu prüfen (sog. Prüfungskompetenz) und wem das Recht zusteht, bei festgestelltem Normwiderspruch, die Nichtigkeit verbindlich festzustellen (sog. Verwerfungskompetenz). Grundsätzlich obliegt es zunächst den Gerichten, die Vereinbarkeit der maßgeblichen Rechtsnorm mit höherrangigem Recht zu überprüfen. Soweit es sich aber um sog. nachkonstitutionelle formelle Gesetze handelt, ist es den Gerichten jedoch regelmäßig verwehrt, deren generelle Nichtigkeit festzustellen. Lediglich dem Verfassungsgericht wird insoweit eine Verwerfungskompetenz zugebilligt (vgl. auch Art. 100 GG; § 31 I BVerfGG). Das Verwerfungsmonopol des Verfassungsgerichts dient dabei dem Schutz des Parlamentsgesetzgebers. 91So soll vermieden werden, dass Gerichte sich mit dem Hinweis auf die Nichtigkeit eines Gesetzes über den Willen des Parlaments hinwegsetzen. Strittig ist dagegen die Frage, in welchem Umfange Verwaltungsmitarbeitern bei der Anwendung von Rechtsvorschriften eine Prüfungs- und Verwerfungskompetenz zukommt. Hier geht es um das Spannungsverhältnis aus Art. 20 III GG (Grundsatz der Gesetzmäßigkeit) und der Autonomie der Normgeber (Stichwort: Gewaltenteilungsprinzip). Die wohl (noch) h. M. billigt der Verwaltung zwar eine Prüfungskompetenz zu, versagt es ihr aber, sich im Einzelfall über eine (vermeindlich) nichtige Rechtsnorm hinwegzusetzen. Damit haben Verwaltungen die Pflicht, Rechtsvorschriften zu beachten, solange und soweit sie nicht durch den Normgeber aufgehoben oder vom Gericht für nichtig erklärt worden sind. 92
3.6Verwaltungsvorschriften
3.6.1Begriff, Zweck und Arten; Abgrenzung 93
54Verwaltungsvorschriften sind generell-abstrakte Regelungen der Regierungs- oder Verwaltungsbehörden, die an nachgeordnete Behörden oder Bedienstete gerichtet sind und sich auf die Organisation oder das Verfahren der öffentlichen Verwaltung oder das Verhalten der Bediensteten beziehen. Ihr Zweck ist es, den Bediensteten die Arbeit zu erleichtern und zu gewährleisten, dass die Verwaltung einheitlich handelt; insb. soll durch sie darauf hingewirkt werden, dass die Rechtsnormen richtig und einheitlich ausgelegt und gehandhabt werden.
55VwV kommen in der Verwaltungspraxis eine erhebliche Bedeutung zu. Dies zeigt sich bereits an den vielfältigen Erscheinungsformen. So lassen sich VwV in unterschiedliche Kategorien einteilen: 94
– So steuern norminterpretierend VwV insbesondere Anwendung und Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen (Beispiel RdNr. 61).
– Eine besondere Funktion kommt sog. normkonkretisierenden VwV zu. Es handelt sich hier um VwV, die aufgrund besonderer gesetzlicher Ermächtigung unbestimmte Rechtsbegriffe bzw. sog. „offene Tatbestände“ mit Beurteilungsspielraum für die Verwaltung ausfüllen. Sie kommen primär im Bereich des Umwelt- und Technikrechts vor.
Beispiel:
TA-Luft und TA- Lärm, die auf der Grundlage des § 48 BImSchG entwickelt wurden.
– Sofern in bestimmten Bereichen notwendige gesetzliche Regelungen fehlen, können gesetzesvertretende VwV diese Lücke schließen. Gerade im staatlichen aber auch im kommunalen Subventionsrecht spielt dieser Typus eine gewisse Rolle. Fehlt es an einer entsprechenden normativen Regelung, so kann die Vergabe bereitgestellter Haushaltsmittel mit Hilfe von Subventionsrichtlinien gesteuert werden. 95Die Bedeutung der sog. gesetzesvertretenden VwV schwindet im Hinblick auf die zunehmende Rechtsetzung im Leistungsbereich. 96
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