– Ermessenslenkende VwV legen fest, wie die Verwaltung die durch Gesetz eingeräumten Entscheidungsspielräume nutzen soll (z. B. Zufahrtrichtlinie zum BFernStrG; ferner VwV zu § 46 StVO). Die Grenzen zwischen Ermessensrichtlinie und gesetzvertretende VwV sind fließend.
– Organisations- und Dienstvorschriften (z. B. Geschäftsverteilungsplan, Allgemeine Dienstanweisung) treffen Regelungen für den inneren Dienstbetrieb.
Beispiel:
Verwaltungsvorschrift zur Haushaltssystematik des Landes Niedersachsen 97
Die hohe Praxisrelevanz steht in gewisser Diskrepanz zur (geringen) verfassungstextlichen Absicherung dieses Steuerungsinstrumentes. 98In ihrer tatsächlichen Bedeutung sind sie häufig kaum noch von RVO zu unterscheiden.
3.6.2Abgrenzung von Rechtsquellen
56Die Rechtsnatur von VwV ist umstritten. 99Überwiegend wird aber angenommen, dass VwV von Rechtsquellen – insbesondere von RVO – zu unterscheiden sind. Rechtsquellen regeln die Beziehungen zwischen Rechtssubjekten, im öffentlichen Recht namentlich die Beziehungen zwischen Staat und Bürgern; sie haben – vom Staat aus gesehen – Außenwirkung („Außenrecht“).
Dass Rechtsquellen nicht nur das Außenverhältnis, sondern auch das Innenverhältnis innerhalb eines Rechtssubjekts (z. B. die Willensbildung einer juristischen Person), also umfassend alle möglichen Rechtsbeziehungen regeln können, bleibt hier außer Betracht (siehe z. B. Kommunalverfassungsrecht).
Verwaltungsvorschriften regeln dagegen die Beziehungen innerhalb eines Rechtssubjekts, also z. B. der Bundesrepublik oder einer anderen Körperschaft des öffentlichen Rechts. Aus ihnen ergibt sich regelmäßig kein die Beziehungen zwischen Staat und Bürgern unmittelbar regelndes Recht; sie haben nur interne Wirkung („Innenrecht“). 100Verwaltungsvorschriften sind mithin keine Rechtsquellen. Dass sie gleichwohl vielfach tatsächlich auch das Verhältnis des Staates zum Bürger betreffen und unter bestimmten Voraussetzungen rechtliche Wirkung im Außenverhältnis haben können, ändert an dieser grundlegenden Einordnung nichts.
57Die grundlegende Unterscheidung zwischen Verwaltungsvorschriften und Rechtsquellen lässt sich wie folgt veranschaulichen:
58Bei der Frage, ob es einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung bedarf, um VwV zu erlassen, ist eine differenzierte Betrachtung geboten. Abzustellen ist darauf, wer Adressat der VwV ist. So können sich VwV an die Mitarbeiter einer Behörde (z. B. einer Kreisverwaltung bzw. nachgeordnete Behörden) oder aber an Mitarbeiter weiterer Behörden (z. B. Straßenbauämter in verschiedenen Bundesländern) richten. Im ersten Fall handelt es sich um sog. einfache VwV; im anderen Fall liegen sog. übergreifende VwV vor. 101
58aAls ausschließlich verwaltungsintern verbindliche Regelungen bedürfen einfache Verwaltungsvorschriften keiner gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Das Recht der Regierungs- und Verwaltungsbehörden, Verwaltungsvorschriften zu erlassen, beruht auf der Befugnis zur Leitung eines Geschäftsbereichs. 102Verwaltungsvorschriften brauchen regelmäßig auch nicht in einem Gesetz- und Verordnungsblatt verkündet zu werden. Ausdrücklich hat das BVerwG festgestellt, dass eine Veröffentlichung einer VwV keine Wirksamkeitsvoraussetzung ist. 103Solche Verwaltungsvorschriften, die auch Wirkungen für den Bürger haben (vgl. sogleich Tz. 3. 6.3), sollen aber in einem anderen, der Öffentlichkeit allgemein zugänglichen Bekanntmachungsorgan, z. B. einem Ministerialblatt, veröffentlicht werden. 104
58bDagegen benötigen sog. übergreifende VwV eine rechtliche Ermächtigung. Derartige Ermächtigungen sind in einzelnen Gesetzen ausdrücklich aufgenommen worden (siehe z. B.§ 48 BImSchG). Im Hinblick auf den Vollzug von Bundesgesetzen durch Landesbehörden enthält das Grundgesetz für die Bundesregierung 105eine Ermächtigung, VwV zu erlassen (siehe Art. 84 II und 85 II 1). Auch diese übergreifenden VwV entfalten nur Innenwirkungen. Durch die Ermächtigung wird für die berechtigten Behörden lediglich die verwaltungsinterne Weisungskompetenz gegenüber weiteren Exekutivorganen geschaffen. 106
58cDie Mitarbeiter der Verwaltung sind verpflichtet, die vorhandenen VwV zu beachten. Für Beamte erfolgt diese Verpflichtung aus den entsprechenden beamtenrechtlichen Regelungen. Hiernach hat der Beamte die Pflicht, die von den Vorgesetzten erlassenen Anordnungen auszuführen und die vorhandenen allgemeinen Richtlinien zu befolgen. Mithilfe der arbeitsrechtlichen Direktionsbefugnis kann der Arbeitgeber die Beschäftigten verpflichten, vorhandene VwV zu beachten.
59VwV als Innenrecht können keine Ermächtigungsgrundlage für belastende VA sein. 107
59aAuch begründet ein Verstoß gegen eine VwV regelmäßig keine Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts.
3.6.3Bedeutung der Verwaltungsvorschriften im Außenverhältnis; Selbstbindung der Verwaltung
60Zahlreiche Verwaltungsvorschriften wenden sich ihrem Inhalt nach nicht nur an Bedienstete (wie z. B. eine allgemeine Dienstanweisung), sondern betreffen tatsächlich auch das Verhältnis der Verwaltung zum Bürger. Insb. sind hier die gesetzesauslegenden Verwaltungsvorschriften, Ermessensrichtlinien und Subventionsrichtlinien zu nennen.
Verwaltungsvorschrift – Bindungswirkung (Übersicht)
|
Organisations- und Dienstvorschriften |
Ermessenslenkende VwV |
Norminterpretierende VwV |
Normkonkretisierende VwV |
Inhalt |
Organisation und verwaltungsinterne Abläufe |
Vorgaben zur einheitlichen Ausübung von Ermessensspielräumen |
Auffassung der Verwaltung zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe |
Ausfüllen unbestimmter Rechtsbegiffe bzw. offener Tatbestand aufgrund besonderer gesetzlicher Ermächtigung |
Wirkung |
Keine Außenwirkung |
Mittelbare Außenwirkung |
Keine Außenwirkung |
Unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbare Außenwirkung |
Vertiefung |
RdNr. 55, 60 |
RdNr. 63 ff. |
RdNr. 61 |
RdNr. 62 |
61Gesetzesauslegende Verwaltungsvorschriften interpretieren unbestimmte Rechtsbegriffe, enthalten also Richtlinien zur Auslegung eines Tatbestandsmerkmals. Solche Verwaltungsvorschriften wirken sich zwar auf das Verhältnis zum Bürger aus, haben aber rechtlich für das Außenverhältnis gleichwohl keine Bedeutung, weil maßgebend allein das Gesetz ist. Entsteht Streit über die richtige Auslegung, muss das Verwaltungsgericht entscheiden. Gesetzesauslegende Verwaltungsvorschriften haben deshalb nur verwaltungsinterne Wirkung mit der Folge, dass es auf die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes, der in Anwendung der Verwaltungsvorschrift erlassen wurde, keinen Einfluss hat, ob die Verwaltungsvorschrift beachtet wurde oder nicht.
Beispiel:
Nach § 4a I TierSchG darf ein warmblütiges Tier nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist. Von diesem Grundsatz formuliert Abs. 2 Ausnahmen. Nach § 4a II Nr. 2 TierSchG darf die zuständige Behörde für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) eine Ausnahmegenehmigung erteilen, wenn es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, wenn zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Nr. 2 der VwV des Landes Niedersachen 108bestimmt nun, dass als berechtigter Antragsteller nach § 4 II Nr. 2 TierSchG nur Religionsgemeinschaften (Gruppe von Menschen, die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung haben) und Personen, die selbst Angehörige dieser Religionsgemeinschaft, infrage kommen. Dagegen haben Schafhalterinnen und Schafhalter, die z. B. für ihre Kundinnen und Kunden Schafe schächten möchten, jedoch nicht selbst Angehörige einer entsprechenden Religionsgemeinschaft sind, keinen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 4a II Nr. 2 TierSchG.
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