Po-Tses Tochter Néng wurde im Palast des Gouverneurs vorstellig. Sie bot an, selbst den Auftrag des Yang Yúchun auszuführen, als Geschenk, um ihren Vater auszulösen. Der Gouverneur, ein Mann eigener Prinzipien, ließ das ablehnen.
Néng überlegte lange. Dann bot sie an, den alten Meister Po-Tse gegen einen einmaligen Krug auszulösen, der eines Kaisers würdig wäre! Erst, als der Gouverneur persönlich erschien, erzählte sie, was das bedeutete: Denn ihre Mutter hatte sich, als sie vergebens in den Wehen lag und keine Hoffnung mehr hatte, einem Drachen geopfert. Nur Néng, ihre Tochter, die im Mutterleib von dem magischen Drachen berührt wurde, könnte sich diesem Drachen nähern, denn nur sie könne ihn sehen. Diesem würde sie ein Haar auszupfen und es ihn die Tonmasse geben. Gebrannt würde daraus eine magische Form entstehen, die es nie zuvor gegeben hatte und die es auch sonst niemals wieder geben könne.
Yang Yúchun lachte sie aus und warf sie aus dem Palast. Er, ein Gouverneur, würde nicht an Märchen glauben. Heimlich aber sandte er einen Tag später einen Boten in das Dorf Jianci, um herauszufinden, ob Néng die Wahrheit spräche. Tatsächlich beschieden ihm alle Anwohner, die die alten Geschichten kannten, dass die Ehefrau des alten Po-Tse wirklich am Tag ihrer Niederkunft im Reisfeld verschwunden war. Er grübelte einige Zeit, und da er keine besondere Verwendung für einen alten Mann in seinem Gefängnis hatte, schickte er erneut zwei seiner Soldaten aus, um der Tochter des Po-Tse auszurichten, dass er sich möglicherweise erbarmte, sofern der Krug so schön wie einzigartig sei.
Néng ließ die Werkstatt auch mit Unterstützung vonseiten des Dorfvorstehers wieder herrichten.
Beim nächsten Morgennebel verschwand Néng; erst am Vormittag war sie wieder da. Sie erzählte den Soldaten, dass sie ein Haar des Drachen ausgezupft hätte, es jedoch niemand außer ihr sehen könne. Zur Feier des Tages schenkte sie so viel köstlichen Reisschnaps Báijiu aus, dass die Soldaten davon einschliefen. Mithilfe des Vorarbeiters erschlug sie die Männer, zerteilte sie in der Küche, und warf die einzelnen Teile ihrer Körper nach und nach in den Ofen. Die Asche der Knochen sammelte sie, mischte sie unter die Tonmasse, und formte daraus zwei große, überaus elegante Krüge. Jeder wurde einzeln gebrannt, so heiß und so lange sie es bestimmte.
Der Bote des Gouverneurs, ein gebildeter hoher Beamter, erstarrte vor Ehrfurcht, als er die beiden Krüge erblickte. Niemals zuvor hatte er solche Kunst erblickt. Sie besaßen eine traditionelle Form, doch waren sie durchscheinend, und es schien, als würden sie einen Nebel beinhalten, der sich, je nach Blickwinkel, langsam bewegte.
Der Drache hätte im Austausch für das Haar die Soldaten gefressen, erzählte Néng. Jeder Krug hielte den Geist eines der Soldaten gefangen, daher wären es zwei Krüge. Dann ergriff sie eines der Gefäße, um es auf den Boden zu werfen. Es hüpfte erst einmal, bevor es mit einem grässlichen Geräusch zerschellte. Von diesen Krügen, behauptete sie, dürfe es immer nur jeweils einen geben.
Auch der Beamte war erschüttert. Néng ließ den verbliebenen Krug in Seidenpapier einwickeln, in eine hölzerne Kiste legen, und überreichte sie ihm.
Drei Tage später war Po-Tse wieder zu Hause, doch er war verändert. Néng nahm den Vorarbeiter zum Ehemann, übernahm den Betrieb, und wurde eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Einen Drachenkrug schuf sie niemals wieder. (Erst achthundert Jahre später konnten in einem anderen Land andere Künstler wieder solch eine Kunst erschaffen – aber das ist eine andere Geschichte.)
Der Drachenkrug beeindruckte in seiner Einzigartigkeit nicht nur Yang Yúchun. Dieser, auch von der Erzählung seines Gesandten eingeschüchtert, machte letztlich den Krug dem Kaiser zum Geschenk. Nachdem dieser daraus einen blutroten Reiswein genossen hatte, überfiel und besiegte er das Land Tang.
Rainer Schorm – Essen und wohin so etwas führen kann …
Essen? Die Stadt?
Nein, keineswegs. Eher Düsseldorf. Das liegt, wie der geneigte Leser weiß, etwas über dreißig Kilometer südwestlich davon. Dort siedelt die Jubilarin. Aber darum geht es eindeutig nicht, obwohl auch in Düsseldorf Essen zu finden ist … erzählt man.
Gemeint ist demzufolge die Kulinarik in all ihren Formen – auch den gruseligen.
Dass Monika Niehaus Essen liebt, wird dadurch verständlich … ein bisschen zumindest. Ihr eignet eine intime Nähe zum Grotesken. Aber auch völlig normales Essen findet ihre begeisterte Zustimmung und warum auch nicht?
Das häufig ins Essen führende Kochen bekommt gleichzeitig eine deutlich höhere Wertigkeit und es erklärt, neben der einen oder anderen literarisch-kulinarischen Schweinerei, eben auch ein Tätigkeitsfeld, in dem sie sich hervortat.
Bücher über Essen, oder besser: den falschen Umgang damit sind ein wichtiger Bestandteil des niehausschen Œuvres.
Die provokanten Titel lauten etwa: »Wer gesund lebt, ist selber schuld: Was uns Gesundheitsapostel verschweigen.« 1oder »Wer gesund isst, stirbt früher: Tatsachen und Trugschlüsse über unser Essen.« 2
Der mitschwingende Sarkasmus sollte jedem zu denken geben, denn wie so häufig und keineswegs von selbst gehören die Dinge, die man eben weiß , in die Kategorie Irrtum. Was mit angeblich gesundem Essen angerichtet wird, ist gerade deshalb brisant, weil so unglaublich viele vorgeblich aufgeklärte Menschen eben diese Irrtümer geradezu liebevoll pflegen. Man weiß es eben – und da sind wir genau dort, wo's weh tut.
Aufklärung ist das Stichwort. Das kantsche »Sapere aude!« ergibt lediglich dann Sinn, wenn der Denkende sich bezüglich der Fakten, die er zum Denken benutzt, vergewissert. Ansonsten dreht sich auch das Denken sehr schnell im Kreis. Auswüchse dieses Problems kann der geneigte Leser dieser Tage auf vielen Feldern studieren. Ob Klima, ob Corona, ob Energie …
Es ist erschreckend, wer heutzutage Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nimmt. Der bessere Begriff wäre »Geiselhaft«.
Die Jubilarin hingegen weiß sehr wohl, was Wissenschaft tatsächlich bedeutet: ein ewiger Prozess der Falsifizierung. Skepsis tut not, soll »die Wissenschaft« (welche eigentlich?) nicht zur Zementierung neuer Dogmen dienen.
Das gilt für die oben genannten Bücher wie auch für »Food-Design: Panschen erlaubt: Wie unsere Nahrung ihre Unschuld verliert« und »Wer hat das Rind zur Sau gemacht?: Wie Lebensmittelskandale erfunden und benutzt werden.« 3Sie sind aufklärerisch im besten Sinne des Wortes. Monika Niehaus hat hier in Zusammenarbeit u. a. mit Udo Pollmer der Wahrheit eine Chance gegeben. Oder gar »Opium fürs Volk: Natürliche Drogen in unserem Essen«. 4Sogar Menschen, die sich für Nahrungsmittel interessieren, werden hier den einen oder anderen Augenöffner finden.
Dass die Bücher sich überdies amüsant lesen, ist ein weiterer Pluspunkt. Da die üblichen Aussagen zum Thema sich gerne moralinsauer geben und die Diskussion dominieren, ist der Weg zum Sarkasmus wahrscheinlich sogar zwingend. Sozusagen als würzende Zutat.
Dehnt man den Bezugsrahmen ein wenig aus, so könnte man Gifte aller Art durchaus als »Zutat« verstehen – in Ergänzung der gerade eben erwähnten Drogen. »Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solch üblen Tricks schützt: Rauschpflanzen und Gifte in antiken Mythen und Sagen« 5verlässt die Umgebung der Gegenwart und bezieht einen zeitlichen Kulturrahmen mit ein, der die ganze Breite des Phänomens beschreibt. Ein weiter Horizont schadet nicht. Es sei denn, man leidet unter intellektueller Agoraphobie. Dieser Angststörung liegt übrigens die Furcht vor Kontrollverlust zugrunde. Insofern wäre wissenschaftliches Denken immer eine Gefahr: Wer mag es schon, wenn die Fakten das eigene Weltbild infrage stellen?
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