Nun ist es aber mit dieser Stele so ähnlich wie mit Kunos Zwergen. Nicht ganz, aber fast, denn es gibt diese Stele, der Kunstprofessor Rückriem hat sie aus galicischem Granit gefertigt, und man hat sie dort aufgestellt, wo angeblich anno 496 der Frankenfürst Chlodwig die Alemannen schlug. Er war ein anständiger Heide, aber in der Bedrängnis soll er seiner burgundischen Gemahlin, einer Christin, gesagt haben, wenn ihr Gott ihm den Sieg gäbe, wolle er sich taufen lassen. Er siegte, und mit seiner Taufe begann das christliche Frankreich, weshalb es in Paris Straße und Brücke de Tolbiac gibt, und das ist natürlich Tolbiacum, Zülpich. Wo die Alemannen aber nie gewesen sind. Die Schlacht hat möglicherweise in der Nähe von Toul stattgefunden, nicht bei Langendorf bei Zülpich, also, die Schlacht hat es nicht gegeben, nicht hier, aber die Stele gibt es.
Und an dieser Stele hing an diesem Sonntagmorgen ein Zwerg. Aufgeknüpft, mit einer ganz ähnlichen Schlinge wie bei dem Kleinwüchsigen im Felsenkeller. Es war ein richtiger Zwerg, ein Gartenzwerg, und er hing wirklich da. Und zwar so, dass man ihn vom Weg nicht gleich sehen konnte; man musste die Stele umrunden.
Kuno und Karl-Heinz taten dies; danach gingen sie zurück zur Wohnung von Karl-Heinz, riefen abermals die Polizei an und tranken weiter. Gründlich.
Olf, der sich nicht mehr Kuno nennen mag, bastelt seither an wahnsinnigen Theorien über meuchelnde und gemeuchelte Zwerge. Ich glaube, er versucht seit Wochen, einen sensationellen Artikel mit dem Titel »Die Meuchelzwerge von Zülpich« in irgendeiner Zeitung unterzubringen, aber bisher hat sich niemand so richtig für die Zwergenmetzelei interessieren mögen. Ein Jammer übrigens; nach dem, was Olf-Kuno und Karl-Heinz mir erzählt haben, muss es in diesem Text wüst hergehen. Es wimmelt dort wohl von Zwergensärgen, Wichtelhenkern und dergleichen mehr, und da beide Stricke – im Keller und an der Stele – aus Hanf waren, gibt es auch Hanfhänflinge, Schlingenschlingel und ein Heinzelpendel, nicht zu reden von Koboldkillern und dem geplanten Gnomengenozid.
Gestern habe ich mit Olf-Kuno telefoniert und vorgeschlagen, er solle doch in den alten Minen bei Eschweiler beziehungsweise bei Killewittchen nachsehen, ob sich dort vielleicht ein Killewittchenkiller herumgetrieben habe.
»Was meinen Sie denn, was ich seit Tagen mache?« sagte Olf; dabei stöhnte er. »Ich hab schon ganz platte Füße. Und zwei Hosen durch, vom Rutschen auf den Knien durch niedrige Gänge. Und sieben Batterien leer, ach was, acht!«
»Und?«, sagte ich. »Schon was gefunden?«
»Nix. Was aber schon verdächtig ist, oder?«
»Wie meinen Sie das?«
Er zögerte einen Moment. »Na ja«, sagte er dann. »Da muss doch was passiert sein, und wenn nix zu finden ist, heißt das wahrscheinlich, dass jemand alle Spuren beseitigt hat.«
Mir fiel ein alter Witz ein – ein Archäologe findet Draht, was beweist, dass es dort vor Jahrhunderten schon Telefon gab; ein anderer findet keinen Draht, was beweist, dass die Ahnen schon drahtlosen Funkverkehr hatten –, aber ich habe mir gesagt, dass Kuno vermutlich nicht in der Stimmung für so etwas wäre. Statt ihm also schlechte Witze zu erzählen, habe ich noch schlechtere Vorschläge in ernstem Tonfall gemacht.
»Haben Sie schon mal an Zwergenverzehr gedacht?« sagte ich.
»Hä?«
»Na ja, Kobold-Kannibalismus. Gastrognomie, wenn Sie so wollen.«
»Wie meinen Sie das denn?«
»Also, vielleicht sind da ja überall Zwerge von ihren Artgenossen umgebracht worden, und hinterher haben die die Leichen gegessen, um keine Spuren zu hinterlassen. Und um satt zu werden.«
»Von Zwergen wird man nicht satt«, sagte er; es klang wie ein Tadel, aber zugleich ein wenig düster.
»Nicht einmal Zwerge?«
»Auch die nicht, nee.«
»Sind Sie sicher?«, sagte ich. »Wäre aber doch interessant. Stellen Sie sich die Rezepte vor.«
»Was für Rezepte?«
»Heinzelmännchen à la plancha. Zarte Windelwichtel auf Kressebett. Gnomengnocchi. So was.«
Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Kann es sein, dass Sie mich verarschen wollen?«
»Ich Sie? Ah bah, wie kommen Sie denn darauf? Nein, will ich wirklich nicht. Ich würde aber gern Ihren Artikel lesen.«
»Nix da. Da müssen Sie warten, bis er veröffentlicht ist.«
Mir fiel noch eine andere Frage ein – spät, wie ich zugeben muss, aber immerhin rechtzeitig, ehe er auflegen konnte. »Warum wollen Sie eigentlich über ›Zwerge und Zülpich‹ oder so schreiben? Ich meine, der Felsenkeller gehört zu Bürvenich, die Stele zu Langendorf, und wenn’s in Killewittchen was gibt, das ist dann eher Eschweiler …«
»Ja, und der Zwergberg ist bei Kirspenich, und das gehört zu Münstereifel. Aber haben Sie sich das mal auf der Karte angesehen?«
»Nee, muss ich zu meiner Schmach gestehen. Warum?«
»Tun Sie das mal. Dann werden Sie sehen, dass all die Stellen so was wie ‘nen Kreis ergeben, und Zülpich liegt im Zentrum.«
Ich dachte an die Konzentrik der Zülpicher Zwerge – Zülpich, Zentrale der Zwergenzehrung. »Wenn Zülpich von den Amerikanern nicht so plattgemacht worden wäre«, sagte ich, »könnte man da ja vielleicht noch einen kleinen Zwergenturm finden. Oder Zwergenkeller. Ein Gnomenverlies. So was.«
Er schwieg, und irgendwie kam es mir wie ein abwehrendes Schweigen vor.
»Sind Sie noch dran?«
»Ja.«
»Hören Sie, warum wollen Sie mir denn Ihren Artikel nicht zeigen, ehe er gedruckt ist? Vielleicht kann ich Ihnen bei der Veröffentlichung helfen.«
»Nee, nee, nix da.« Er klang jetzt ganz energisch. »Sie sind doch schon dabei, mir Ideen zu klauen, die ich noch gar nicht gehabt habe. Ich bin lieber vorsichtig.«
Ich war gerade dabei, über das Klauen ungezeugter Ideen nachzudenken, als er hinzusetzte: »Und abgesehen von allem anderen – haben Sie mal über die Kunstfertigkeit von Zwergen nachgedacht?«
»Goldschmuck?«, sagte ich. »Feinste Kettenpanzer? Schwerter für Siegfried und Wagner? Oder was meinen Sie?«
»Waagerecht am Boden erhängen. Das meine ich. Warten Sie’s ab, Mann; Sie werden staunen, wenn Sie’s lesen!«
Damit legte er auf. Und seitdem warte ich auf die gewaltigen Enthüllungen über grimme Gnomen und ihre Kunst, einander waagerecht zu erhängen. Es wird bestimmt großartig und verblüffend zu lesen sein.
Die Wahrheit ist wie immer viel blöder, und die Geschichte dessen, was sich zugetragen hat, ist eigentlich viel zu traurig, als dass man sie so erzählen könnte. Da ich aber schon mal damit angefangen habe und Kunos Zwerge nicht für mich behalten konnte …
Also: Der Mann, der im Felsenkeller gefunden wurde, war gar nicht so klein; aber wie ich schon sagte, machen Zwergenfreaks es ähnlich wie Angler, nur anders herum. Der Tote stammte aus einem Dorf bei Zülpich, war früh verwitwet und nach Aussagen von Bekannten einigermaßen verbittert. Sein einziges Kind, ein Sohn, um den er sich rührend gekümmert hatte, war geistig behindert und seit Jahren in der Heilpädagogik der Lebenshilfe über dem Felsenkeller gefördert worden. Er machte gute Fortschritte, und dann starb er. Der Vater hatte damit seinen Lebensinhalt verloren. Der Sohn liebte Gartenzwerge, und den Lieblingszwerg hat der Vater an die Stele gehängt, zu der er mit dem Sohn oft spaziert war. Dann hat er das Schloss an der Tür des Felsenkellers aufgebrochen und tagelang – immer abends, unbeobachtet – aus der heimischen Tiefkühltruhe große Eisklumpen hingebracht, die sich in dem ehemaligen Eiskeller gut hielten. Neben einem Abschiedsbrief an die Behörden fand man auf seinem Schreibtisch einen Stapel von Büchern: über die Kunst des Erhängens, die Schwierigkeiten, den Knoten so anzubringen, dass beim Fall ins Leere das Genick bricht und der Kandidat nicht langsam erstickt, sondern schnell stirbt, Memoiren alter Henker, Berechnungen dazu, wie tief man bei welchem Körpergewicht fallen muss, um das Genick zu brechen, also, wie viel Spiel der Strick braucht. Er hat Strick und Knoten bereitet, einen starken Haken über dem Durchgang zur Nebenkaverne in die Wand geschlagen, auf dem am Boden liegenden Ende des Stricks eine Pyramide aus Eisklötzen errichtet, ist hinaufgeklettert, hat den Strick über den Haken geführt und sich unterhalb des Orts, an dem sein Sohn gestorben war, erhängt. Nach und nach schmolz das Eis, und der von der Kälte konservierte Leichnam und der Strick fielen zu Boden.
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