Ein besonderes Anliegen war ihm die Weiterbildung junger Erwachsener. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es auf diesem Gebiet bereits Fortschritte gegeben, die der Krieg dann zunichtemachte. Berufsschulen im heutigen Sinne waren 1920 zwar offiziell eingeführt worden, aber das Angebot auf dem Land blieb dürftig oder existierte gar nicht. In Kassel organisierte Hosenfeld anfangs einen Abendkurs in Obstanbau und erweiterte sein Angebot auf Geschichte und Literatur, als er merkte, dass auch dafür Interesse bestand. Gerade auf dem Lande sei es wichtig, mehr zu lernen, betonte er immer wieder.
Nach den schlechten Erfahrungen in Rudolphshan mit der Wandervogel-Gruppe wusste er, dass neue Projekte ohne Einbindung der Geistlichkeit und der Gemeindevertreter kaum Chancen auf Erfolg haben würden. Die Nähe zur Stadt Frankfurt ermöglichte einen Gedankenaustausch mit gleichgesinnten Lehrern und Anhängern des Wandervogels. Tatsächlich gelang es ihm, im Winter 1923 im Ort eine Fortbildungsschule mit einem breiten Fächerangebot einzurichten, die einmal pro Woche abends Fortbildung ermöglichte. Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 25 Jahren konnten zwischen Volkswirtschaft, Geschichte, Staatsbürgerkunde sowie Deutsch und Literatur wählen.
Nach mühsamer Vorarbeit war eine Art Berufs- und Volkshochschule entstanden. Die gute Resonanz ermutigte den Pädagogen, weiterzumachen und über das Dorf Kassel hinaus zu planen und Fortbildungsschulen als Modell in Hessen zu verankern. An manchen Abenden las er einen Artikel aus der Zeitung vor, z.B. über die Rentenmark, die 1923 zur Eindämmung der Hyperinflation eingeführte neue Währung, die ein Jahr später von der Reichsmark abgelöst wurde, und brachte so eine Frage-und-Antwort-Runde in Gang. Ich möchte aber diese Burschen geistig aufrütteln, ihrem Denken mal eine andere Richtung geben, notierte er in seinem Tagebuch. Sie stecken da den ganzen Tag in ihrer Arbeit, was es nun ist, der eine macht Besen, der andere geht in den Wald und schlägt Holz, der andere ist Handwerker und so weiter. Es ist alles Arbeit, die rohe Kräfte erfordert, der Geist liegt brach.
Von Wilm Hosenfeld gibt es eine Reihe von Redemanuskripten, die sein Bemühen um die Erziehung von Kindern und Jugendlichen, aber auch um das Mitwirken der Eltern unterstreichen. Schulung des Geistes , das war für ihn Teil des Aufbruchs in die neue Zeit, die mit der Weimarer Republik, der ersten Demokratie auf deutschem Boden, begonnen hatte. In einer Ansprache im Frühjahr 1924 war von der Schicksalswende unseres Vaterlandes die Rede. Das alte Reich mit seiner Macht und Kraft ist zusammengebrochen. Ein neuer Staat mit neuer Kraft wird auferstehen. Lasst uns diese Zeit wach erleben, lasst uns hineinhorchen in der Ereignisse Getriebe. Was heute pathetisch klingen mag, war damals immerhin ein Bekenntnis zur Weimarer Demokratie – nicht selbstverständlich in den unruhigen 1920er Jahren.
Bei der Einschulung einer neuen Klasse im Frühjahr 1924 warb Hosenfeld um das Vertrauen der Eltern und bat sie, die Schule nicht als feindseliges Schreckgespenst anzusehen. Erste Aufgabe der Lehrer sei es, den Kindern Mut zu machen und auf ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse einzugehen. Bei den häuslichen Schulaufgaben sollten die Eltern nicht ungeduldig werden, schimpfen und in einem fort tadeln, ach, was bist du so dumm, aus dir wird’s doch gar nichts, und was der Redensarten noch mehr sind. Damit ist gar nichts getan. Im Gegenteil, dem Kind wird der Mut genommen, und dann ist viel verloren. Eher loben als tadeln.
Das Dorf Kassel blieb für annähernd sechs Jahre ein schwieriges Betätigungsfeld für Wilm Hosenfeld. Immerhin bekam er dort zum ersten Mal die Gelegenheit, seine Vorstellungen von einer zeitgemäßen Schul- und Erwachsenenbildung in die Praxis umzusetzen. Ab Frühjahr 1927 nutzte er die Chance, eine eigene Schule zu leiten, um seine Ideen noch konsequenter zu verwirklichen, in dem Ort Thalau südöstlich von Fulda.
Thalau, ein eher ärmliches Bauerndorf mit etwa 400 Einwohnern, lag nicht weit von Mackenzell entfernt, wo seine Eltern lebten. Das Schulgebäude, ein solides Fachwerkhaus aus dem Jahre 1909, stand gleich neben der Kirche. Die Lehrerwohnung lag im ersten Stock über den Klassenräumen, in denen bis zu 90 Kinder unterrichtet wurden. Hosenfeld hatte eine zweite Lehrkraft zur Seite. Ansonsten war er sein eigener Herr.
Was am Anfang keineswegs sicher war, ergab sich erst im Laufe der Zeit – der Ort Thalau wurde zum Lebensmittelpunkt der Familie und blieb es für Annemarie Hosenfeld und ihre Kinder bis in die 1950er Jahre. In Kassel war die Tochter Anemone geboren worden. In Thalau kam 1927 Detlev, 1932 Jorinde und fünf Jahre später Uta zur Welt. Die wachsende Kinderzahl bedeutete für Annemarie Hosenfeld einen prall gefüllten Arbeitstag. Für eigene Interessen an Kunst, Musik und Literatur blieb nur noch wenig Raum.
1930 in Thalau: Wilm und Annemarie Hosenfeld mit ihren Kindern Helmut, Detlev und Anemone vor dem Gartenhaus gegenüber der Schule
Auch wenn der Frau des Lehrers eine Haushaltshilfe zur Seite stand, nahm die Arbeit nie ein Ende. Die Betreuung der Kinder war das eine. Zur Schule gehörte ein großer Garten, wo Gemüse angebaut und Obst geerntet wurde; ferner eine Scheune für die Hühner, Ziegen und ein Schwein, das gemästet und geschlachtet wurde. Neben dem Schulunterricht und der Erwachsenenbildung widmete Wilm Hosenfeld sich dem Dorfleben. Er leitete den Gesangverein und organisierte Festveranstaltungen. In der Kirche war er Organist. Zu Hause kümmerte er sich um den Garten und machte die Imkerei zu seinem besonderen Hobby. Die Bienenstöcke warfen in den meisten Jahren so viel Honig ab, dass auch Freunde und Verwandte damit versorgt werden konnten.
Wilm Hosenfeld nahm seine eigenen Kinder, auch wenn diese noch gar nicht schulpflichtig waren, gelegentlich mit in den Unterricht. Das entlastete seine Frau und lockerte zugleich den Unterricht auf. Jorinde Krejci, geborene Hosenfeld, erinnert sich im Gespräch an die frühe Schulzeit:
Als ich drei, vier Jahre alt war, hat mich unser Vater manchmal mit in seine Klasse genommen. Ich durfte mich zu den großen Mädchen setzen oder saß neben ihm am Pult. Unter dem Pult stand ein mit Sand gefüllter Kasten. Da waren kleine Bäume, winzige Häuser, Höfe usw. – die brauchte er, um das Dorf, die Nachbarorte und die Landschaft zu erklären. Die Kinder durften das dann aufbauen. In der Pause gingen wir rauf zur Mutter, frühstückten mit ihr, und anschließend schickte sie mich wieder in die Klasse. Im Musikunterricht habe der Vater Gitarre oder Klavier gespielt und mit den Kindern Volkslieder eingeübt, berichtet die Tochter weiter. Es gab eine Flötengruppe. Zwei Schülerinnen spielten Geige.
Ihr Bruder Detlev schwärmt rückblickend von einer unbeschwerten, schönen Kindheit und Jugend in Thalau. Wir haben so viel Freiheit gehabt. Dann die schöne landschaftliche Umgebung. Im Winter Rodeln oder Skilaufen. Im Sommer badeten wir in einem See in der Nähe der Wasserkuppe, dem Zentrum der Segelflieger. Dann die Haustiere, der riesige Garten. Gegenüber lag eine schöne Wiese mit alten Obstbäumen.
Mochten die Kinder sich glücklich und geborgen fühlen – für ihre Mutter bedeutete Thalau eine große Umstellung, in die sie sich am Anfang nur schwer fügen konnte. Von der Versetzung ihres Mannes in einen Ort, der noch kleiner war als das Dorf Kassel bei Frankfurt, war sie nicht begeistert. Sie empfand die Bauern zunächst als abweisend und verschlossen. Umgekehrt dürften diese die Frau des Dorflehrers als überheblich angesehen haben. Jedenfalls dauerte es, bis man sich annäherte.
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