Hosenfelds Vorschlag beim Kompanieführer, mit mehreren Leuten aufzubrechen, um den Verwundeten zu bergen, stieß zuerst auf Ablehnung. Doch am nächsten Tag erfuhr er, dass ein rumänischer Verwundeter mit einem Oberschenkeldurchschuss geborgen worden sei.
In den letzten drei Monaten des Jahres 1916 entschied sich das Schicksal der rumänischen Streitkräfte. Sie mussten Kronstadt räumen und zogen sich über die Pässe der Transsilvanischen Alpen zurück. Die Deutschen setzten nach. Dabei traf Hosenfeld öfter auf Siebenbürger Sachsen, die seit Jahrhunderten in Rumänien lebten und ihre Sprache und Kultur weitgehend bewahrt hatten. Hätte ich je geahnt, dass ich einmal hierherkommen sollte, wo Deutsche wohnen mit unbekanntem, vornehmem Nationalstolz, der hier größer ist als daheim.
Ende November 1916 drangen die deutschen Truppen tief in den Süden des Landes bis in die Walachei vor. Für Hosenfeld endete dieser Vorstoß Anfang Dezember in der Stadt Ploiești am Fuße der Karpaten, etwa 60 Kilometer nördlich von Bukarest, das sich den Deutschen fast ohne Gegenwehr ergeben hatte. Seine dritte Kriegsweihnacht erlebte er in einem Akazienwald in der rumänischen Moldau. Salven von Granaten hatten Bäume zerfetzt, der Boden war durchzogen von Granatlöchern und Schützengräben. Der Gegner lag 1500 Meter entfernt. Am ersten Weihnachtstag nahm Hosenfeld an einem katholischen Feldgottesdienst teil. In seinem Tagebuch hielt er fest: Kein Gotteshaus der Welt hätte so viel Andacht wecken können als hier der sternbesäte Himmel, die dunkle Erde, der schweigende Wald, das lodernde Feuer. Eine wunderbare Ruhe sei in sein Herz gezogen, heißt es weiter, in dieser Umgebung, Schlacht, Tod und Grauen um uns, vor und zwischen uns.
Ende Januar 1917 steigerte sich die Kälte ins Unerträgliche. Aus Nordosten wehte ein steifer, eisigkalter Wind. Er hielt Tage und Nächte an. Es war ein Sturm, ein Orkan, der durch alle Schützenkleider ging, die Glieder erstarrten. Viele erlitten Erfrierungen. Nach der Eroberung von Focşani begann erneut ein Stellungskrieg. Ruhr und Cholera grassierten. Hosenfeld, inzwischen zum Vizefeldwebel aufgestiegen, musste vier Wochen lang, und zwar bis Ende April 1917, ins Lazarett. Sobald er halbwegs genesen war, genehmigten ihm die Vorgesetzten einen Heimaturlaub von drei Wochen. Der Zufall fügte es, dass sein älterer Bruder Martin auch gerade in Mackenzell war. Am Himmelfahrtstag war die ganze Familie wieder mal seit Jahren zusammen, worüber im Hause große Freude herrschte. Der Tag des Abschieds rückte auch wieder heran, und am 1. Juni (1917) fuhr ich.
Über Breslau, Kronstadt und Ploieşti erreichte Hosenfeld Focşani. Als er bei seiner Kompanie in einem Dorf am Südrand der Karpaten eintraf, herrschte warmes Sommerwetter. Der Krieg legte eine Pause ein. Zeit für Hosenfeld, Land und Leute genauer zu beobachten. Die rumänische Bevölkerung tat ihm leid. Er ging auf die Menschen zu und versuchte, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Was er sah, war Verzweiflung, Trauer, aber kein Hass. Er bewunderte den Fleiß der Bauern und ihr handwerkliches Geschick.
Anfang August 1917 wurde Hosenfeld bei einem Vorstoß der deutschen Truppen in der Bukowina im Nordosten Rumäniens gegen russische Einheiten erneut verletzt. Er erlitt einen Durchschuss am linken Bein und verlor die Verbindung zu seinem Zug. Unter Aufbietung aller Kräfte wollte er dem Kugelhagel entkommen, aber vergeblich. Er stürzte zu Boden und kroch auf allen vieren in ein Maisfeld, wo zwei Kameraden ihn fanden.
Ein Lazarettzug brachte ihn in der zweiten Augusthälfte 1917 nach Gera. Vom Krieg hatte er vorerst genug: Ich freue mich wie ein Kind auf die Heimat und kann mein Glück nicht fassen. Sein Vater reagierte ebenfalls erleichtert: Drücke Dich nur solange es geht im Lazarett. Ich freue mich, dass Du mit dem »Heimatschuss« der großen Gefahr entkommen bist. Wilm Hosenfelds große Sorge war allerdings, mit einem steifen Bein weiterleben zu müssen. Nie wieder wandern zu können – das war für ihn eine schreckliche Vorstellung. Gegen Ende September wechselte er zum Ersatz-Truppenteil nach Jena.
Die gründliche Nachsorge in Jena bedeutete zugleich Muße. Hosenfeld nutzte die Zeit, um seine Erinnerungen an den Krieg aufzuschreiben. Ihm ging es darum, die Ereignisse festzuhalten, ohne sie zu verherrlichen oder sich selbst gar als Helden darzustellen. Andererseits lag ihm nicht daran, sich kritisch mit dem Krieg auseinanderzusetzen und nach dem Sinn des Mordens und gegenseitigen Abschlachtens zu fragen. Wilm Hosenfeld blieb Patriot und zugleich ein begeisterter Anhänger der Wandervogel-Bewegung. Bereits vom Lazarett in Jena aus knüpfte er Kontakte zu Gleichgesinnten und nahm an einem Gauführertag des Verbandes Thüringen teil. Dabei lernte er Otger Gräff kennen, einen wortgewaltigen Anführer der Bewegung, der aus seiner völkischen und antisemitischen Einstellung keinen Hehl machte. Nach der Veranstaltung notierte Hosenfeld in seinem Tagebuch: Er will uns ältere Wandervögel zu einem deutschvölkischen, reinblütigen Bund zusammenschließen, in dem von ihm gegründeten Jungdeutschen Bund.
Wilm Hosenfeld, etwa 1918, in Wandervogel-Kluft. Typisch dafür der Schillerkragen und kurze Hosen
Da Hosenfeld als felddienstuntauglich eingestuft war, bestand keine Aussicht mehr, an die Front zurückzukehren. Den Jahreswechsel 1917/18 verbrachte er im Garnisonslazarett in Weimar. Dort gelang es einem Chirurgen, die Nervenbahnen in dem an der Front verletzten Bein so weit wiederherzustellen, dass er wieder normal gehen konnte.
Die letzte Kriegsweihnacht im Kreis ebenfalls verwundeter Kameraden blieb ihm noch lange in Erinnerung. Der Pastor hatte an Heiligabend gemeint, das deutsche Schwert habe von seiner Schärfe noch nichts eingebüßt. Das Jahr 1917 sei ein weiteres Ruhmesblatt an dem Kranze der deutschen Siege. Hosenfeld sah das anders: … diese Weihnachtspredigt gefällt uns nicht. Wir sind alle so müde. Uns kann man keine Stimmung vormachen. So nicht!
Am ersten Weihnachtstag wurde ihm bei einer Begegnung mit einem katholischen Kaplan bewusst, dass ein neuer Lebensabschnitt bevorstand: Und ich merkte, welch untätiges, stumpfes und wildes Leben hinter mir liegt. Das ist nun vorbei. Für mich ist der Krieg aus. Die Glocken heute Morgen, die mir drei Jahre nicht geklungen, sie riefen mir den Frieden zu, den Frieden des bürgerlichen Lebens. Im Mai 1918 verfügten die Vorgesetzten seine Entlassung aus dem aktiven Militärdienst. Für ihn war der Krieg zu Ende, für seine Kameraden dauerte er noch bis zum Waffenstillstand im November 1918.
3. Wandervogel und Künstlertochter – ein glückliches junges Paar
Jetzt konnte Wilm Hosenfeld endlich nach vorn blicken und Pläne für die Zukunft schmieden. Denn er hatte eine Frau kennengelernt, die für ihn mehr als eine flüchtige Begegnung werden sollte: Annemarie Krummacher. Hosenfeld hatte sie am 8. August 1918 bei einem Wandervogel-Treffen in einer ehemaligen Kolonialschule im hessischen Witzenhausen zum ersten Mal gesehen. Wilm habe anfangs eine etwas einfache, treuherzige Art an den Tag gelegt, erzählte sie später ihrem Sohn Detlev leicht ironisch-distanziert. Er sei unternehmungslustig und stets zu Späßen aufgelegt gewesen, wohl auch, um den Mädchen in der Gruppe zu gefallen. Eines Abends habe er dann sehr ernsthaft über den Krieg in Rumänien erzählt, die Kämpfe dort und seine Verwundung, und das habe sie mehr als alles andere beeindruckt.
Der angehende Lehrer mit den dunklen Haaren und der sportlichen Figur gefiel ihr jedenfalls besser als die anderen jungen Männer aus dem Wandervogel, die sich um sie bemüht hätten. Nicht einverstanden war Annemarie Krummacher allerdings mit seiner völkisch-nationalen Einstellung. Sie selber, am 6. April 1898 in Berlin-Wilmersdorf geboren, war im Künstlerdorf Worpswede bei Bremen aufgewachsen und hatte zusammen mit ihrer um ein Jahr jüngeren Schwester Gertrud den freiheitlichen Teil der Wandervogel-Bewegung erlebt.
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