Arne Svingen · Helene Uri
Ich sehe,
wie die Welt sich dreht
Deutsch von Gabriele Haefs
Saga
Ich trinke nasses Hundefell
und pflücke einen Löwenzahn
Magst du keinen Whisky, Schätzchen?«
»Nein, nicht so richtig«, antworte ich mit einem Seitenblick auf das Whiskyglas neben mir. Ich habe erst ein paarmal daran genippt. »Das schmeckt wie Ohrenschmalz«, sage ich.
»Was?«
»Ohrenschmalz«, wiederhole ich und zeige zuerst auf mein eines, dann auf mein anderes Ohr und schließlich auf den Whisky.
»Aha«, sagt er. Sein Bauch bebt beim Lachen. »Möchtest du lieber ein Bier?«
»Ja, bitte«, antworte ich lächelnd und er reicht mir seine Bierflasche. Ich bin schließlich hier, um mich zu amüsieren, oder was? Er hat Sonnenbrand im Gesicht, ist so rot wie die dänische Flagge. Von den Schläfen bis zu den Augen ziehen sich schmale weiße Striche. Bestimmt ist er mit der Sonnenbrille auf der Nase am Strand eingeschlafen.
»Ist sie nicht einfach wunderbar?«, brüllt der Flaggenmann seinen Kumpel auf der anderen Seite des Tisches an. Der Kumpel hat dichte schwarze Locken auf der Brust. Wie ein Affe. Bestimmt hat er auch in den Ohren einen Urwald aus Haaren. Und braunes krümeliges Ohrenschmalz, das genauso eklig und scharf stinkt wie der Whisky. Aber trotzdem lache ich über den Witz, den der Affenmann jetzt erzählt. Ich kriege zwar die Pointe nicht mit, aber ich kapiere immerhin, dass der Witz ziemlich grob ist. Ich will mich ja schließlich amüsieren. Ich amüsiere mich! Ich lache noch lauter und hebe die Flasche an den Mund. Die Flasche fühlt sich an meinen Lippen wunderbar glatt und kühl an. Aber das Bier schmeckt scheußlich, wie benutztes Turnzeug und nasses Hundefell. Mir fällt ein, dass ich kein Bier mag. Ich schlucke aber trotzdem. Schlucke und lächele. Lege den Kopf schräg und lächele die beiden Männer an. Von außen kichernd-fröhlich. Von innen wutschnaubend. Klassefrau. Der Flaggenmann sagt etwas. Ich verstehe nur Bahnhof, aber ich lache. Wieder hebe ich die Flasche an den Mund und lasse die Flüssigkeit durch meinen Hals strömen. Er beugt sich zu mir vor. Sein Lächeln ist ganz dicht bei mir. Er haucht mir seinen Atem ins Gesicht. Seine rote Stirn ist bedeckt von kleinen blanken Tropfen. Er scheint Butter auszuschwitzen. Er sagt etwas und legt mir einen dicken, schwabbeligen Arm um die Taille. Ich spüre seine Finger dicht bei meinem Nabel, der Daumen erreicht gerade noch meinen Rücken. Ich habe das Gefühl, von einer klebrigen, zudringlichen Gummihandschuhhand umarmt zu werden. Dann spüre ich seinen Oberschenkel an meinem. Und reiße mich los, ich springe auf, trete ihm, so hart ich kann, vors Schienbein, kehre ihm den Rücken zu und marschiere aus der Bar. Ich würde gern mit der Tür knallen, aber ein blonder Mann in einem knallbunten Hemd hält sie für mich auf. Er sagt etwas, auf Schwedisch, glaube ich. Es klingt freundlich. Aber who cares? Und was bildet der Typ sich ein, hier einfach freundlich zu mir zu sein? Dussel! Ich fauche ihn an, dann bin ich draußen.
Ich weiß nicht, wohin, ich weiß nur, dass ich nicht länger mit Affenmann und Flaggenmann zusammen sein will. Und ich weiß, dass ich nicht nach Hause will. Vor allen Dingen will ich nicht nach Hause ins Ferienhaus. Deshalb gehe ich die Straße entlang, weg vom Zentrum, weg von der Bar. Weg von ihr. Mir geht auf, dass ich die Bierflasche mitgenommen habe. Ich trinke zwei Schluck, bekomme aber eine Gänsehaut, als ich mich zum Schlucken zwinge. Mir ist schlecht, und ich gehe nur noch einige Meter weiter, dann lasse ich mich an den Straßenrand fallen, mitten in eine Löwenzahnkolonie. Die meisten Blüten haben sich für die Nacht geschlossen, eine große aber ist noch immer hellgelb und offen. Plötzlich muss ich an einen Sommer vor langer Zeit denken, einen Sommer zu Hause in Norwegen. Als alles anders war, und ich ein kleines Mädchen mit Zöpfchen und aufgeschrammten Knien. Damals hatte ich ja keine Ahnung. Und das Leben war so leicht. Mama rupfte den Löwenzahn aus der Wiese, brach den Stängel ab. Ich sehe ihre Hände vor mir. Warme, weiche, mollige Mamahände. Sie zeigte auf den weißen Saft, der aus dem Stängel quoll, und erzählte, dass Löwenzahn auf Dänisch »Mælkebøtte« heißt, also Milchkanne. Jetzt sitze ich hier auf einer kleinen dänischen Insel am Straßenrand, umringt von Löwenzahn. Plötzlich liege ich auf den Knien, ich reiße an Grasbüscheln und ziehe an Löwenzahnpflanzen, ich schleudere alles auf den Boden. Danach zermatsche ich es im Kies zu einem Brei, und meine Fingerspitzen werden aufgeschrammt und tun weh. Aber dann kann ich einfach nicht mehr länger wütend sein. Ich sinke in mich zusammen, vorsichtig strecke ich eine Hand nach dem größten Löwenzahn aus. Nach dem offenen. Er steht unberührt dicht neben mir. Ich pflücke ihn und halte ihn an meine Wange. Und ich merke, dass jetzt das Weinen kommt. Ich habe kein einziges Mal geweint, seit wir hergekommen sind. Aber jetzt weine ich. Ich heule wie ein kleines Kind. Wie ein kleines Mädchen mit Zöpfchen und kurzem Kleid.
So bleibe ich eine Weile sitzen und lasse meine Tränen fließen, bis ich ganz leer bin. In meinem Kopf wütet ein Orkan und meine Gedanken flattern umher wie Papierschnipsel. Der erste Schultag: Ich habe eine karierte Schultasche und Mama hält meine Hand. Dann bin ich ein bisschen älter: Ich sitze zwischen meinen Eltern und blicke enttäuscht in eine Zirkusmanege voller Clowns mit roten Nasen und hüpfenden Pudeln. Und heute: der erste Tag der Sommerferien, und alles ging schief, schon von Anfang an. Die Sonne schien und es gab auf dem Frühstückstisch frische Brötchen, Saft und weich gekochte Eier. »Morgenmad«, sagte Mama, das ist dänisch für Frühstück, und sie lachte. Aber das half nichts. Der gelbe fröhliche Sonnenschein machte nur alles doppelt so schlimm. Ihre Augen, die dünnen Handgelenke. Es war unmöglich, nicht zu sehen, unmöglich zu vergessen. Es war unmöglich, sie nicht zu hassen. Ich sprang auf und ging, ohne auf Wiedersehen zu sagen, ohne zu sagen, wohin ich wollte. Ohne zu wissen, wohin ich wollte. Es tat gut, die Haustür knallen zu hören. Ich ging am Strand entlang, aber als der sich mit munteren Sommermenschen mit Saftflaschen und kreischenden Kindern füllte, verzog ich mich in die Straßen der kleinen Stadt. Ich besuchte Läden, trank eine Tasse Tee, probierte Kleider an, von denen ich wusste, dass ich sie nicht kaufen wollte, ich kaufte Haargel und klaute Lidschatten, den ich nie im Leben benutzen werde. Dann liefen mir der Butter schwitzende Flaggenmann und sein widerlicher Affenkumpel über den Weg. Und jetzt sitze ich heulend hier neben einer fast leeren Bierflasche. Es ist noch immer der erste Tag der Sommerferien. Aber der Tag ist zum Abend geworden und bald kommt die Nacht.
Ich schalte meine Nachtsicht ein
und höre keuchenden Atem
Schon als kleiner Jungehabe ich entdeckt, dass alles Spannende nachts geschieht. Man muss nur genau hinschauen. Mit geübtem Nachtblick nehme ich noch die kleinste Bewegung wahr, während ich wie ein schwarzer Schatten vorüberhusche, wie ein Windhauch.
Ich kann mit geschlossenen Augen hier entlanggehen, so gut kenne ich den Strandweg. Aber das tue ich nicht, denn ich will alles mitbekommen, und wenn ich im falschen Moment gezwinkert hätte, dann hätte ich sie in dieser Lücke zwischen zwei Häusern bestimmt nicht gesehen, auf der anderen Straßenseite, in sich zusammengesunken und bewegungslos. Und zwar das Mädchen, das morgens am Strand aufgetaucht ist. Sie sieht jetzt anders aus als bei Tageslicht. Etwas ist passiert. Und dieses etwas passiert immer nachts.
Ich gehe in die Hocke und betrachte sie, wie das bei Tageslicht am Strand niemals möglich wäre. Die Tage gehen vorüber wie eine kleine Ewigkeit nach der anderen, die Nächte nicht. Die gehören mir. Und jetzt schlägt mein Puls schneller. Denn hier stimmt etwas nicht. Sie dürfte nicht so dasitzen und am Etikett einer Bierflasche herumspielen. Nachts stülpt das Leben sich um. Wenn man genau hinsieht. Und ich habe Nachtblick. Und Nachtgehör. Ich höre das eintönige Dröhnen einer Fähre draußen auf dem Meer, betrunkenes Dänengeheul in der Ferne und den keuchenden Atem des Mädchens.
Читать дальше