Aber als ich näher komme, sehe ich, dass etwas nicht stimmt. Der wilde Haarstrom ist zu einem strengen Knoten hochgesteckt, der Mund verkniffen. Sie sieht nicht aus wie eine Geländerakrobatin und ihr schmaler müder Blick geht durch mich hindurch. Aber sie ist schön wie die Sommernacht und ich habe sie geküsst. Als ich vorübergehen will, zuckt mein Körper zusammen und unbezwingliche magnetische Impulse treiben mich schräg nach links. Ich beuge mich vor, lege weich die Wange an ihre und flüstere »hallo«. Sie zuckt zusammen.
»Himmel, was soll der Scheiß?«, fragt sie und schiebt mich weg.
»Ich bin’s«, sage ich und tippe mir mit dem Zeigefinger auf die Brust.
»Du?«
In solchen Momenten könnte ich meine Seele dafür geben, mein Leben einige Sekunden zurückspulen zu dürfen. Ich beiße mir in die Lippe, die nach nichts mehr schmeckt. Mein Kopf ist erfüllt von Wörtern, die nichts mehr bedeuten.
»Verdammte Pest! Jetzt hab ich wohl total verschissen! Ich bin ein Vollidiot!«, rufe ich und weiß nicht einmal so recht, ob außer mir noch jemand diese Wörter mitbekommt, hässliche Wörter, die noch mehr kaputtmachen und mich wirklich verrückt aussehen lassen.
»Bist du denn total bescheuert?«, fragt sie.
Ich bin wieder übergelaufen. Meine Körpertemperatur ist zu schnell gestiegen und der Siedepunkt hat alles zerstört. Habe ich denn gar nichts mehr im Griff? Ich suche nach Worten, die erklären können.
»Ich hab dich doch gerettet«, beginne ich, aber das ist nicht das Richtige, denn die Brücke war nicht tödlich hoch. »Äh, ich hab dich gestern jedenfalls aufgefangen. Und wir haben uns geküsst ... geknutscht ... ganz echt, und ich dachte, da wäre es vielleicht in Ordnung, dich mal kurz in den Arm zu nehmen, einfach so, weil du ... weil du mir deinen Löwenzahn gegeben hast.«
Dann sagt sie, tut mir leid, und sie habe solche Kopfschmerzen und das Frühstück sei alles andere als nett gewesen und sie wolle jetzt nur noch nach Hause nach Norwegen und sie könne sich nicht so richtig erinnern, aber dann steht sie plötzlich dicht vor mir und legt mir die Arme um die Schultern und drückt zu.
Es hat geklappt. Und es war nicht einmal geplant.
Ich belle und
tanze Tango
Ich hatte ihn viel früher gesehen als er mich. Ich saß am Strand und schaute hinaus aufs Meer, es war blau und vermutlich schön, aber das half mir ja nichts. Ich saß im Sand und rieb einen runden, weißen Stein an meinem T-Shirt und konzentrierte mich darauf, an den Stein zu denken und sonst gar nichts. Ich war auch heute wütend auf sie, aber es war doch eine mildere Wut. Er ging mit Shorts und federnden Schritten genau an mir vorbei. Er wippte bei jedem Schritt auf und ab und schien im ganzen Leben nicht eine einzige Sorge zu haben. Als ich ihn entdeckte, hätte ich mich am liebsten sofort auf den Bauch fallen lassen. Ich konnte jetzt nicht mit ihm reden, nein, nicht auch noch das! Herrgott! Er hatte mich in einem Zustand gesehen, in dem ich mich nicht einmal meiner besten Freundin zeigen würde. Nein, der vielleicht zuallerletzt. Silje kann reichlich erbarmungslos sein. Und dann dieser schreckliche Kuss! Mein Mund muss doch nach Schimmelpilz geschmeckt haben. Bei dem Gedanken wurde ich gleich rot. Glücklicherweise ging er vorbei, ohne mich zu sehen. Oder vielleicht tat er nur so, als ob er mich nicht gesehen hätte? Herrgott, war der Kuss so schlimm?
Sowie er aus meinem Blickfeld verschwunden war und ich mich wieder in das Polieren von weißen runden Steinen vertieft hatte, tauchte er plötzlich genau vor mir auf. Er lächelte selbstsicher und ehe ich mich aufraffen konnte, irgendwas zu sagen, lag seine Wange an meiner. Ich konnte gerade noch registrieren, dass seine warm und weich war. Dann sprang ich auf und bellte ihn an. Kläffte wie ein Köter, bellte, er sollte sofort damit aufhören. Wollte der Typ mich denn verarschen, oder was? Oder war er so einer, der sich Küsse und Umarmungen holt, wenn ihm das gerade passt? Er sah ja eigentlich nicht aus wie ein Casanova, auch wenn er sich wie einer aufführte. Aber jetzt fing er an zu stammeln und zu stottern, dass er auch immer ins Fettnäpfchen treten müsste. Seine Stimme war viel zu laut und er sah in alle möglichen Richtungen, nur nicht in meine. Er kam mir ziemlich verrückt vor und redete unzusammenhängend. Normalerweise wäre ich jetzt geschmolzen, hätte ihm sofort verziehen, hätte gelächelt und alles mit einem Jux abgetan. Ich habe immer schon Leute gemocht, die Schwäche zeigen, ob das nun bewusst passiert oder ihnen nur so rausrutscht. Vielleicht mag ich vor allem Letzteres. Aber im Moment ist nichts so wie sonst und ich war nur sauer. Die Wut, die die ganze Zeit gleich unter meiner Haut auf der Lauer lag, brach aus mir heraus, durch jede einzelne Pore, durch meinen Mund, und sammelte sich zu dem Satz, mit dem ich ihn anbrüllte: »Himmel, was soll der Scheiß?« Und als er dann rumplapperte, er habe mir doch das Leben gerettet, war ich noch viel saurer. Aber ehe ich noch weiterkläffen konnte, murmelte er etwas über einen Löwenzahn. Den Löwenzahn! Den hatte ich vergessen. Jetzt sah ich ihn vor mir, zerrupft, mit schlaffem Stängel, und gleich darauf sah ich auch ihre Handgelenke vor mir. Der Junge mit den braunen Haaren versuchte zu lächeln, aber das gelang ihm überhaupt nicht, und dann drehte er sich um und wollte gehen. Aber inzwischen hatte ich mich ein wenig gefasst und die Wut verkroch sich beschämt irgendwo in mir. Ich packte seinen Arm und gleich darauf hatte ich ihn ungeschickt umarmt. Und er ging nicht, er blieb stehen. Er nickte und sagte etwas wie, alles klar. Dann war es still. Wir schauten beide aufs Meer hinaus. Am Ende frage ich:
»Und was hast du nun damit gemacht?«
»Womit?«, fragt der Junge.
»Dem Löwenzahn«, erkläre ich.
»Den hab ich in Wasser gestellt.«
»Gut«, sage ich und kriege sofort Lust zu weinen. Er hat ihn in Wasser gestellt! Mitten in der Nacht. Meinen armen Löwenzahn. Wie lieb von ihm. Ich bin gerührt, überwältigt von Zuneigung zu diesem fremden Jungen. Ich möchte ihn noch einmal umarmen. Und diesmal richtig. Aber das tu ich natürlich nicht. Danke, sage ich, und ich höre, dass meine Stimme fast bricht. Im einen Moment wütend, im anderen gerührt. Erst fauchen, dann kichern. Herrgott! Er sieht mich an, forschend, scheint verstehen zu wollen, was ich eigentlich mache, und ich denke, der muss mich doch für total daneben halten. Aber das tut er sicher ohnehin schon, schließlich hat er mich mitten in der Nacht entdeckt, als ich über das Brückengeländer balanciert bin.
Wir wissen beide nicht, was wir sagen sollen. Ich merke, dass ich den weißen Stein immer wieder auf meiner Handfläche rotieren lasse, und deshalb werfe ich ihn so weit weg, wie ich nur kann. Wir schauen ihm beide hinterher, danach blicken wir wieder aufs Meer hinaus. Das ist noch immer blau, und diese Situation ist inzwischen mehr als nur normal peinlich.
»Wie heißt ...«, beginne ich, nachdem wir beide lange geschwiegen haben, aber mein Versuch wird unterbrochen von lauter Tanzmusik aus dem braunen Ferienhaus hinter unserem.
»Hörst du! Das sind Åke und Håkon«, sagt der Junge.
»Åke und Håkon«, wiederhole ich wie ein blödes Echo. »Heißen die so?«
»Ja, natürlich. Die sind zusammen«, sagt er, als ob das alles erklärt, und fügt hinzu: »So was machen die ab und zu. Die stellen die Anlage auf die Terrasse und drehen sie voll auf.«
»Ach so«, sage ich. Ich kenne das Stück, es ist so eins, das modern war, als meine Eltern sich kennen gelernt haben. Der Junge tritt mit dem Fuß den Takt und schaut wieder aufs Meer hinaus.
»Willst du tanzen, oder was?«, frage ich und sehe seinen Fuß an. Der hält inne.
»Ja«, antwortet er. »Nein«, fügt er fast sofort hinzu. »Nein, nein!«, wiederholt er entsetzt. »So war das doch nicht gemeint. Es war nur ... öh ... ich hab wohl nicht richtig gehört, was du gesagt hast, und dann ... ja, also, nein.«
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