Helene Uri
Anna am Freitag
Ein Roman über Sprache
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Saga
Es ist mitten in der Nacht. Ich liege auf dem Bauch im Bett, die Nachttischlampe brennt. Vor mir auf dem Kissen liegt ein Stapel weißer Blätter. In meiner rechten Hand halte ich einen Kugelschreiber. Auf dem obersten Blatt stehen vier, fast fünf Sätze. Ich möchte nämlich die Geschichte von Anna und mir aufschreiben. Die Geschichte über alle, die Anna und mir begegnet sind, über alles, was Anna erzählt hat, und alles, was ich gelernt habe.
In meinem Kopf schwirren Gedanken und Wörter nur so durcheinander: Die Walnuss von Anna. Rosamarias Karten. Die rote Schrift: »Wir sind die Gedanken, die du gedacht hast. Wir sind die Wörter, die du geschrieben hast.« Annas letzter Zettel. »Wir sind viele.« Und die leere Tüte.
Vieles von dem, was passiert ist, verstehe ich nicht, und vielleicht werde ich es nie verstehen. Vieles kommt mir seltsam vor, anderes total verrückt. Aber ich glaube, es hilft, wenn ich alles so aufschreibe, wie es passiert ist. Sicher wäre das Anna auch recht.
Alles fing damit an, dass meine Mutter jeden Freitag auch abends arbeiten musste. »Könntest du nicht zu Hause bleiben und dich um Helle kümmern? Und ich koche dir etwas Schönes, dann kannst du es dir richtig gemütlich machen, wenn sie im Bett ist. Du könntest doch Hausaufgaben machen oder fernsehen, bis ich wieder da bin. Meinst du nicht, dass das geht?«
Ich schüttelte den Kopf und sagte, dass ich freitagabends immer mit Tom und den anderen Fußball spiele und dass ich mir für diese Abende wirklich etwas Witzigeres vorstellen könnte, als bei meiner kleinen Schwester den Babysitter zu spielen. Woraufhin meine Mutter etwas wütend wurde. Und die ganze Sache so endete, wie sie oft bei uns endet. Ich hielt die Klappe und meine Mutter wurde noch wütender, sie hielt mir vor, dass ich nie mein Zimmer aufräumte, dass ich ihr wirklich mehr helfen könnte, dass ich meine Hausaufgaben vernachlässigte und mich abends zu oft draußen rumtreiben würde.
Ich ging auf mein Zimmer und knallte mit der Tür. Es war ein Dienstag. Am Freitag lernte ich dann Anna kennen. Ich kam vom Fußball, ging ins Wohnzimmer und meine Mutter sagte: »Das ist Anna.«
Ich sah Anna an, Anna sah mich an. Ich sah eine Frau von vielleicht zwanzig Jahren. Sie hatte hellbraune lange Haare, eine runde Brille, große, ein wenig abstehende Ohren, und sie lutschte irgendein Bonbon. Ihre Augen waren klein und saßen ein bisschen schräg, außerdem waren sie ganz hell. Sie sah klug und nett, ein bisschen langweilig und ziemlich verlegen aus. Meine Mutter sagte: »Anna kommt jetzt immer freitags her und passt auf Helle auf. Außerdem habe ich sie gebeten sich auch ein wenig um dich zu kümmern.«
Als meine Mutter das sagte, wurden Annas Ohren fast so rot wie meine Haare. An der Stimme meiner Mutter konnte ich hören, dass sie noch immer ein bisschen sauer auf mich war, weil ich nicht auf Helle aufpassen wollte. Ich nickte nur, drehte mich um und wollte auf mein Zimmer gehen. Aber plötzlich hatte ich das Gefühl, dass hinter meinem Rücken etwas passierte. Ich wandte den Kopf, doch meine Mutter und Anna saßen noch immer auf dem Sofa und unterhielten sich, keine sah mich auch nur an. Oder hatte Anna mir zugezwinkert, als ich mich umgedreht hatte? Ich war mir nicht sicher. Ich schüttelte den Kopf und ging die Treppe hoch. Ich dachte an Anna und seufzte. Von nun an würden die Freitage sicher erbärmlich öde ausfallen. Ich beschloss, so wenig wie möglich zu Hause zu sein, wenn Anna kam, und so wenig wie möglich mit ihr zu tun zu haben.
Während ich das hier aufschreibe, muss ich ein bisschen über mich lachen, es kam ja schließlich alles ganz anders. Aber ehe ich mehr über mich und Anna schreibe, sollte ich ein wenig von mir erzählen.
Ich heiße Björn-Oskar und ich wohne mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester zusammen. Meine Mutter ist an sich in Ordnung, obwohl wir uns ziemlich oft fetzen. Meine kleine Schwester ist erst acht Monate alt und heißt Helle. Außerdem gehört zu unserer Familie noch ein Kater. Er heißt Gustav Mahler und liebt Schmierkäse und hart gekochte Eier, überhaupt ist er ziemlich eigen.
Ich habe natürlich auch noch ein paar Freunde. Ich bin viel zusammen mit Lasse, Terje und Tom aus meiner Klasse. Und in unserer Parallelklasse ist eine, die Anniken heißt, die finde ich ziemlich toll. Eigentlich bin ich also ein ganz normaler Junge. Einer, der gerne Fußball spielt und Sport lieber hat als Mathe und Norwegisch. Englisch finde ich auch ganz in Ordnung. Außerdem lese ich gerne, aber nur Bücher, die nichts mit der Schule zu tun haben.
Gerade habe ich eine kleine Pause eingelegt, um zu lesen, was ich bisher geschrieben habe. Jetzt, wo ich hier mitten in der Nacht im Bett liege und lese, komme ich mir absolut nicht vor wie ein »ganz normaler Junge«. Was ich erlebt habe, ist jedenfalls nicht »ganz normal«.
Als Anna zum ersten Mal zu uns kam, um auf Helle aufzupassen, hatte ich mich mit Tom und den anderen am Kiosk verabredet. Ich wollte schließlich nicht zu Hause sein, wenn Anna da war. Tom hatte gesagt, dass vielleicht auch Anniken und Karin kommen würden. Wir hatten vor, Fußball zu spielen. Ich zog die Jacke an und wollte schon gehen, als mir einfiel, dass ich total abgebrannt war. Ich hatte nicht eine einzige Krone. Aber da es ganz nett wäre, den Mädchen eine Limo ausgeben zu können, wenn es sich gerade so ergab, musste ich Anna um Geld bitten, obwohl ich mich eigentlich ohne einen Gruß verdrücken wollte. Ich hörte Helle im Wohnzimmer vor sich hin brabbeln, deshalb nahm ich an, dass ich dort auch Anna finden würde. Ehe ich mir die Sache anders überlegen konnte, hatte ich auch schon die Tür aufgerissen.
Und damit fängt meine Geschichte richtig an.
Ich und Anna begegnen einem Wikinger
»Hassumanpakroon?«
»Klar kann ich dir gern ein paar Kronen geben«, antwortete Anna überrascht. Sie legte ihr Buch zur Seite. Helle saß zu ihren Füßen auf dem Boden und spielte mit einem Rennauto. Gustav Mahler lag auf Annas Schoß und schnurrte laut, obwohl er Fremde sonst eigentlich nicht leiden konnte. Annas Buch war dick und grau, es hieß »Theoretische Linguistik« und sah ebenso grau und öde aus wie Anna selber. Auf dem Tisch lag die größte Tüte Himbeerbonbons, die ich je gesehen hatte, besonders voll war sie allerdings nicht mehr. Ich blieb in der Wohnzimmertür stehen und wartete auf das Geld. Anna musterte mich lange und ausgiebig. Ich wollte gerade noch einmal um das Geld bitten, als sie sagte: »Übrigens hast du gerade ein wunderbares Beispiel dafür geliefert, warum du und ein Wikinger einander nicht verstehen könntet.«
»Ein Wikinger?«, fragte ich. Ich kapierte überhaupt nichts.
Und dann passierte etwas. Annas Augen leuchteten fast gelb hinter ihren Brillengläsern, ihre großen Ohren glühten und sie murmelte etwas Unverständliches. Dann hörte ich ein scharfes Geräusch und fuhr herum. Neben dem Fernseher stand ein seltsam gekleideter Mann. Er trug einen kurzen Kittel aus dickem Wollstoff. Der Kittel war blau, darunter hatte er ein weißes Hemd. Er trug einen Ledergürtel und seine Hose war ebenfalls aus Leder. Er war barfuß, seine Haare fielen ihm auf die Schultern und unrasiert war er auch. Er sah aus wie ein Rocksänger. Nachdem er Anna lächelnd zugenickt hatte, schaute er mich an und sagte: »Góðan dag. Ek heiti Gunnleikr. Hvé heitir þú?«
Ich starrte den Mann an, brachte aber kein Wort heraus. »Guten Tag, Gunnleikr, nett dich zu sehen«, sagte Anna und zwinkerte mir zu. Sie sprach sehr langsam und betont deutlich, das fiel mir auf. »Das hier sind Björn-Oskar und seine kleine Schwester Helle.«
Читать дальше