Die Eltern erzogen ihre Kinder streng nach der katholischen Lehre. Durchaus üblich war damals die körperliche Züchtigung. Das erledigte der immer gefürchtete Vater , der zu Hause wie auch in der Schule uneingeschränkt das Sagen hatte und im Unterricht die eigenen Kinder in gleicher Weise behandelte wie alle anderen. Wilm Hosenfeld schreibt in dem Aufsatz über sich in der dritten Person. Danach war er ein zu Streichen aufgelegter Junge. Das Elternhaus mied Wilhelm, wann immer er konnte. Lieber half er gleichaltrigen Bauernjungen im Wald beim Schlagen von Holz oder auf dem Feld bei der Runkelrübenernte.
Wenn Vater Adalbert durchs Dorf ging, versteckte Wilhelm sich mit seinen Freunden hinter einem Scheunentor oder einer Hauswand. In der Schule sei er nie bevorzugt worden, berichtet er. Wilhelm bekam seine Schläge, wurde gefragt und gescholten wie die anderen und fürchtete sich genauso vor dem Lehrer, wenn er auch sein Vater war, wie die andern.
Bei Ausflügen mit der Familie, etwa zu den Verwandten, sei er lieb zu seinen Kindern gewesen und habe sich als ein grundgütiger Mensch gezeigt. In der Rückschau auf die eigene Kindheit versucht Wilm Hosenfeld, seinem Vater gerecht zu werden. Es sei wohl nur die Herbheit in seinem Wesen oder die bäuerliche Erziehung gewesen, die ihn dazu gebracht habe, die Kinder so streng zu behandeln, statt ihnen seine Gefühle zu zeigen.
Als Wilm Hosenfeld nach dem Ersten Weltkrieg um die Hand von Annemarie Krummacher anhielt, schrieb er am 30. Dezember 1919 in einem Brief an seine künftigen Schwiegereltern in Worpswede: Er (sein Vater) fürchtet, Annemarie ist nicht die richtige Frau für einen Landlehrer, natürlich, wie er sie sieht. Er kennt mich zu wenig. Meine Welt ist ihm fremd. Er wird sie kaum verstehen. Nur ganz langsam muss er zu uns herüberfinden; aber doch nie ganz. Er wird in mir immer seinen Jungen sehn, der’s anders macht, mithin mehr oder minder falsch.
Als Pädagoge lehnte Wilm Hosenfeld die Erziehungsmethoden seines Vaters ab, vor allem die Schläge mit dem Rohrstock. Was die Eltern ihm mit auf den Weg gaben, waren der Respekt vor ihnen und das katholische Christentum mit seinen Zehn Geboten. Das prägte ihn, und daran hielt er fest.
Seinen christlichen Überzeugungen blieb er selbst in schwersten Stunden treu, zumal sie ihm Halt und Orientierung bedeuteten. Damit war seine Einstellung gegenüber der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges vorherbestimmt: Wilm Hosenfeld sah in den Polen nicht die Sklaven der deutschen Eroberer, sondern ebenbürtige Menschen. Mit ihrem katholischen Glauben dachten und handelten die meisten von ihnen wie er.
Der unmittelbare Einfluss des Elternhauses ging ohnehin zurück, als Wilhelm mit elf Jahren die Grundschule verließ und nach Hünfeld wechselte, um dort die Lateinschule zu besuchen. Im Unterricht steckte er, wie zuvor noch in Mackenzell, nicht mehr alles weg, was die Lehrer ihm zumuteten. Sein Gerechtigkeitsgefühl rebellierte, als einer der Pädagogen ihm eine Ohrfeige gab. Aus Protest blieb er vorübergehend dem Unterricht fern.
Wilhelms Berufswunsch stand ziemlich früh fest. Er wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten, ohne dessen Methoden zu übernehmen. Er wollte es besser machen und beweisen, dass es möglich war, ohne körperliche Züchtigung Kinder zu erziehen. Die Fragen einer modernen Pädagogik beschäftigten ihn in den folgenden Jahren intensiv. In einer sogenannten Präparandenanstalt in Fritzlar bereitete Hosenfeld sich von 1910 bis 1913 gründlich auf das Studium der Pädagogik vor. Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges verzeichnete das katholische Lehrerseminar in Fulda ihn schließlich als Studenten. Wilhelm Hosenfeld besaß ein eigenes Zimmer und begann, sich neu zu orientieren.
Zu den Strömungen, die schon vor der Jahrhundertwende Jugendliche in ihren Bann gezogen hatten, gehörte die Wandervogel-Bewegung. Junge Menschen entdeckten Natur und Umwelt ganz neu. Sie sammelten sich am nächtlichen Lagerfeuer, sangen Lieder und gingen ungezwungen miteinander um. Die lärmenden Fabrikhallen, die beengten Wohnverhältnisse in der Stadt und überhaupt das ganze Spießertum im kaiserlichen Deutschland – das alles wollten sie hinter sich lassen.
Die Wandervögel verstanden sich als eine Bewegung jenseits von Politik und gesellschaftlicher Konvention. Charakteristisch waren Loblieder auf das Deutschsein, gedankliche Höhenflüge in Form von Gedichten und Selbstbehauptung im Alltag. Aber schon das Pochen auf Eigenständigkeit bedeutete für die Welt der Erwachsenen Unruhe und Aufruhr. Sie sahen die alte Ordnung mit ihren preußischen Tugenden wie Gehorsam und Pflichtbewusstsein in Gefahr.
Die Bewegung, die aus unterschiedlichen Strömungen bestand, hatte jedoch wenig mit Umsturz und Revolution zu tun, eher schon mit einem Aufbäumen gegen die Altvorderen, die der Jugend alles vorschreiben und sie in ihre eingefahrenen Gleise zwängen wollten. Wilhelm Hosenfeld, schlank, sportlich, kontaktfreudig und unternehmungslustig, fühlte sich auf Anhieb den Wandervögeln verbunden; da war vieles, was ihn anzog: die freie Natur, der offene, ungezwungene Umgang der jungen Erwachsenen untereinander, ihr Schwärmen für Freiheit und Selbstbestimmung. Das enge Korsett abstreifen und neue Wege für das eigene Leben entdecken, das bewog ihn mitzumachen, ihn, der von seiner Mutter das Gefühlsmäßige, das feine Gespür für Nuancen geerbt hatte; ferner die Freude, auf andere Menschen zuzugehen, und zudem die Gabe, Geschehnisse in seiner Umgebung genau zu beobachten und zu beschreiben.
Unter dem Einfluss der Wandervogel-Bewegung änderte Hosenfeld seinen Vornamen in Wilm. Das war kürzer und einprägsamer als Wilhelm. An dem berühmten Treffen der neuen deutschen Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner bei Kassel im Oktober 1913 anlässlich des hundertsten Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig hat er nicht teilgenommen. Die »Meißner-Formel« dürfte er sich allerdings zu eigen gemacht haben, vor allem den Satz: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.«
Diese Ideale traten gewissermaßen neben seinen katholischen Glauben und wurden zum zweiten Anker seines Lebens; sie blieben es auch dann noch, als die Bewegung selbst längst ihre Bedeutung eingebüßt hatte. Diesem Aufbruch widmete er ebenfalls einen längeren Aufsatz mit dem Titel »Die deutsche Jugendbewegung«, den er allerdings erst nach Ende des Ersten Weltkrieges zu Papier brachte, wahrscheinlich 1921 oder 1922. Wohl in der Hoffnung, der Geist der Jugendbewegung lasse sich trotz des barbarischen Krieges wiederbeleben, zählte er auf, was die Bewegung alles zustande gebracht habe.
Der Wandervogel habe eine neue Art von Gemeinschaft geschaffen und eine eigene Wandertechnik entwickelt, schrieb Hosenfeld. Ferner habe er das Volkslied und den Volkstanz neu belebt. Er trieb zuerst Jugendpflege im idealsten Sinne, errichtete die ersten Jugendherbergen, trieb Körperkultur und wetteiferte in Leibesübungen. Und schließlich: Er gab dem Verhältnis der Geschlechter einen einfachen, natürlichen kameradschaftlichen Charakter. Zur Welt der Erwachsenen zog er eine klare Grenze: Die Jugend will aber nicht das dumpfe Gefäß sein, in das die ältere Generation widerspruchslos ihre Ideale und Lebensanschauungen hineinfüllen darf. Sie glaubt sich jetzt stark und urteilsfähig genug, um sich ihre eigene Jugendkultur zu schaffen.
Der Großstadt mit ihrer geschäftigen Unrast, ihrer Seelenlosigkeit und ihrer Versklavung des Menschen stellte Hosenfeld die inneren Kräfte der Jugendseele gegenüber, das Wandern, die Fahrten in die Weite und das Alleinsein in der Natur.
Der Wandervogel verstand sich also als Gegenbewegung zur Industrialisierung und Kommerzialisierung, die Europa, voran England und Deutschland, eine ungeahnte wirtschaftliche Blüte beschert hatten. Und gleichzeitig war die Jugendbewegung Teil eines antibürgerlichen Zeitgeistes. Seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 herrschte vier Jahrzehnte lang Friede. In dieser Zeit entwickelte Deutschland sich zu der führenden Industrienation Europas. Die Fortschritte auf den Gebieten der Technik, Wissenschaft und Medizin waren atemberaubend. Alles und jedes schien möglich und machbar. Die Eisenbahn ließ die Entfernungen schrumpfen. Kunst und Kultur testeten die Grenzen des Erlaubten und überschritten sie. Frauen erkämpften sich Rechte, die ihnen jahrhundertelang verwehrt worden waren.
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