»Halten Sie die junge Frau für so gefährdet?«
Weller, überrascht ernst genommen zu werden, antwortete erleichtert:
»Auf jeden Fall. Ihre Erbschaftsunterlagen, Briefe ihrer Eltern und auch Geld wurden nicht angetastet, nur ein brauner Umschlag ist entwendet worden.«
Mira nickte zustimmend.
»Vielleicht ist es besser, sie verschwindet einige Zeit. Ihr Vater scheint auch keinen normalen Unfall gehabt zu haben. Was enthielt denn der Umschlag?«
Weller zuckte die Schultern.
»Sie sprach von einem Krankenblatt. Sie konnte nichts damit anfangen. Dann kam dieser Friedrich Lust, der vor Kurzem schon bei ihr war, und hat mit ihr einen Strandspaziergang gemacht.«
»Wir müssen ihn dringend vernehmen. Er taucht immer auf, wenn etwas passiert, finden Sie nicht?«
Weller nickte und nach kurzem Überlegen erbot er sich, Lust aufzusuchen.
Das Zimmer im Hause Meier war einfach, aber sauber. Die Familie Meier hatte zwei Kinder im Vorschulalter, die für die vorübergehende Unterbringung von Frauke in das Spielzimmer umgezogen waren. Elke Meier war freundlich und nett und Frauke machte es Spaß, ihr bei der Beaufsichtigung der beiden drei und fünf Jahre alten Jungen zu helfen. Nach dem neuerlichen Vorfall traute sie sich nicht mehr allein hinaus, hier würde weder Friedrich Lust noch sonst jemand sie vermuten. Nach diesem turbulenten Tag hatte sie sich noch einmal die Unterlagen vorgenommen, die sie in Larissas Tresor gefunden hatte. Mittlerweile ging sie davon aus, dass ihre Mutter und ihre Tante Verena mit demselben Mann ein Verhältnis hatten. Warum der Streit der Schwestern auch nach deren Eheschließung weiter anhielt, war für Frauke noch immer ein Rätsel. Die Unterlagen gaben darauf keine Hinweise, außerdem handelte es sich größtenteils um Bankberichte und Investitionsunterlagen, deren Bedeutung sie später mit ihrem Anwalt klären wollte.
Von der Polizei hatte sie erfahren, dass ihr Onkel, Karsten Thilo Bornfeld, regelmäßig mit Larissa brieflichen Kontakt hatte, was ihre Annahme bestätigte, nachdem sie den letzten Brief von Bornfeld in Larissas Wohnung gefunden hatte. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als diesen Onkel aufzusuchen. Auf Anraten von Kommissar Weller hatte sie ihren Wagen vor der Pension in Hooksiel stehen lassen, für die letzten Urlaubstage beschaffte sie sich einen Leihwagen, was ihr durch das Geld, welches sie in Larissas Wohnung gefunden hatte, nicht schwerfiel. Am nächsten Tag half sie Elke Meier, die Kinder in den Kindergarten zu bringen und fuhr anschließend nach Wilhelmshaven. Zuerst machte sie an einem Friedhof halt. Sie wusste nicht, wo das Grab ihrer Eltern war, aber sie musste es finden. Langsam ging sie zwischen den Gräberreihen hindurch, las Inschrift um Inschrift, aber den Namen ihrer Eltern entdeckte sie nicht.
Fast eine Stunde lief sie zwischen den Gräberreihen hin und her, wurde immer unglücklicher und beschloss dann, erst ihre Verwandten aufzusuchen. Später wollte sie im Einwohnermeldeamt erfragen, auf welchem Friedhof ihre Eltern begraben lagen. Sie war damals erst zwölf Jahre alt gewesen und konnte sich nicht mehr erinnern, wo ihre Mutter beerdigt wurde. Seufzend stieg sie in ihren Wagen und machte sich auf die Suche nach ihrer Tante. Der Polizeibeamte hatte ihr zum Glück die Anschrift gegeben. Das Anwesen lag in einer gepflegten Straße und war durch ein Tor mit Sprechanlage gesichert. Auf ihre Frage nach Herrn Bornfeld wurde ihr vom Hausmädchen mitgeteilt, der Herr befinde sich nicht im Hause, eine weitere Auskunft erhielt sie nicht. Enttäuscht fuhr sie eine Runde um die Siedlung, parkte drei Häuser weiter und hatte Glück. Ein Mercedes kam langsam angerollt, das Tor glitt zur Seite, Frauke startete und fuhr hinterher, allerdings nicht schnell genug, das Tor war schon wieder zu. Verärgert sprang sie aus dem Wagen, klammerte ihre Hände an die Eisenstäbe des Tores und sah einen Herrn aussteigen, der zu ihr hinüber schaute. Er zögerte einen Moment, kam dann mit großen Schritten auf sie zu.
Friedrich Lust hatte sein Fahrrad geputzt und wollte gerade zu seiner üblichen Abendtour aufbrechen, als er Besuch bekam. Sofort erkannte er diesen Grünling von der Kripo, der beim Auffinden der ermordeten Larissa Norton fast in Ohnmacht gefallen wäre.
»Haben Sie den Mörder schon gefunden, Herr Kommissar?«, frotzelte er.
Thorben Weller grinste.
»Ich bin auf dem besten Wege. Wo waren Sie gestern Nachmittag?«
»Wieso? Gibt es schon wieder eine Leiche?«
Weller lachte jetzt laut auf.
»Nicht, dass ich wüsste. Sie haben mir meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich war mit Frau Thomas unterwegs.«
»Woher kennen Sie Frau Thomas?«
»Ich habe sie vor zwei Wochen zufällig auf der Straße getroffen, das habe ich Ihrer Kollegin schon gesagt.«
Langsam wurde Lust ärgerlich. Dieser Anwärter auf einen Beamtenposten konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen.
»Vorher haben Sie Frau Thomas nie gesehen? Oder ihre Tante?«
»Nein, verdammt noch mal! Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Reine Routine. Ist Ihnen an Frau Thomas etwas aufgefallen?«
Jetzt wurde es Friedrich Lust zu viel.
»Was soll mir aufgefallen sein? Dass sie traurig war, weil ihre Tante ermordet wurde? Das ist doch normal, oder?«
Er drehte sich demonstrativ um und begann, wie wild an seinem Fahrrad herumzuputzen. Weller ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Als Sie gestern mit Ihr unterwegs waren, ist Ihnen da etwas aufgefallen?
Hat Sie jemand beobachtet oder verfolgt?«
Lust drehte sich um und schaute erstaunt in dieses rote Gesicht mit den blassen Glupschaugen.
»Nein. Ist Frauke was passiert?«
Weller verneinte und Lust schimpfte.
»Wollen Sie mit mir Ihre Zeit totschlagen, oder was soll die Fragerei?«
Weller zückte ungerührt seinen Notizblock, kritzelte etwas hinein und verabschiedete sich. Friedrich Lust schaute ihm verärgert nach.
Kurz darauf fuhr er mit seinem Fahrrad bei der Pension vor, um Frauke von dem Besuch des Beamten zu erzählen. Ihr Wagen stand draußen, aber auf seine Frage antwortete die Wirtin, sie sei ausgegangen. Weit konnte sie nicht sein, da war er sicher, also fuhr er eine Stunde durch die Gegend und erschien kurz vor Einbruch der Dunkelheit erneut in der Pension. Sie war noch immer nicht zurück, und Lust fuhr nachdenklich heim, ohne zu merken, dass er beobachtet wurde.
Thorben Weller war davon gefahren und hatte seinen Wagen gut einen Kilometer weiter vor einem Imbiss abgestellt. Er hatte Feierabend, aber seine Ermittlungen waren auf einem absoluten Tiefpunkt. Es ärgerte ihn, ohne jedes konkrete Ergebnis am nächsten Tag zum Dienst zu erscheinen. Hauptkommissarin Wiedemann würde kaum begeistert sein. Nachdem er sich gestärkt hatte, machte er sich zu Fuß auf den Weg zu der Pension. Er hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben. In der Einfahrt eines Nachbargebäudes stand eine Bank, die einen guten Blick auf den Eingang der Pension bot, er ließ sich darauf nieder und vertiefte sich in eine Zeitung, die er für alle Fälle eingesteckt hatte. Eine ältere Dame kam vorbei, musterte ihn skeptisch und ging vor sich hin brummelnd davon. Er musste nicht allzu lange warten, Friedrich Lust kam mit seinem Rennrad vorgefahren, verschwand für wenige Minuten in der Pension und fuhr anschließend langsam wieder davon. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erschien er erneut und war abermals recht schnell verschwunden. Weller wollte gerade zu seinem Wagen zurück, als er plötzlich stutzte. Eine Dame mit rötlichen Haaren betrat die Pension. Als sie nach einer Stunde noch immer nicht zurück war, ging er hinüber und erkundigte sich an der Rezeption.
»Sie meinen sicher die Mutter von Frau Thomas«, erklärte die Wirtin lächelnd, »sie wollte deren restliche Sachen holen.«
Weller wusste, dass Frauke alle ihre Sachen mitgenommen hatte, und forschte weiter:
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