»Haben Sie schon etwas heraus gefunden?«
Mira Wiedemann schüttelte den Kopf.
»Ich denke, Sie helfen mir.«
»Ich?«
Frauke stand vom Bett auf, bot der Kommissarin einen Sessel an und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.
»Was wollte Ihre Tante hier? Warum hat sie diesen Parkplatz angefahren?«
Die Beamtin sah Frauke prüfend an und diese übergab ihr den mysteriösen Zettel, erzählte von ihrer Begegnung mit der Fremden und berichtete, dass ihre Tante nur deshalb hergekommen war.
»Sie haben die Zwillingsschwester Ihrer Mutter noch nie zuvor gesehen?«
»Ich habe gar nicht von ihr gewusst. Larissa hat mir nur gesagt, dass ich Wilhelmshaven meiden soll.«
Bei dem Gedanken an den Tod ihrer Tante kamen Frauke erneut die Tränen.
»Sie hängen an Ihrer Tante, nicht wahr?«
Frau Wiedemann hatte ihr Haar diesmal zu einem Pferdeschwanz gebunden, was sie nicht ganz so unnahbar erscheinen ließ. Frauke kramte umständlich ein Taschentuch hervor.
»Sie ist meine einzige Verwandte.«
Kaum waren die Worte heraus, schluchzte sie auf.
»Kann es sein, dass die andere, -- ich meine, es ist doch auch Larissas Schwester.« Die Kommissarin schaute durch das Fenster in den blauen Himmel, wo die Möwen ihre Kreise zogen.
»Ja«, sagte sie, »so etwas kommt vor.«
Frauke schnäuzte sich heftig.
»Ich habe Briefe und Fotos, Tante Larissa hat sie mitgebracht - gestern.«
Interessiert betrachtete Frau Wiedemann die Fotos und Briefe, die Frauke nun auf den Tisch packte.
»Sie sagten, Ihre Mutter starb, als Sie zwölf waren, haben Sie auch als Kind nie deren Zwillingsschwester gesehen?«
»Gestern Morgen am Strand sah ich sie zum ersten Mal in meinem Leben. Ich war völlig durcheinander und habe anschließend Tante Larissa angerufen.«
»Was hat sie gesagt?«
Frauke seufzte.
»Nicht viel, sie hat gleich aufgelegt.«
Die blauen Augen der Beamtin funkelten ungeduldig.
»Was genau? Jeder Hinweis ist wichtig.«
Frauke kamen erneut die Tränen, und sie wischte sie mit dem Handballen weg.
»Geh nicht nach Wilhelmshaven, deine Mutter wollte nicht, dass du es erfährst. Dann hat sie aufgelegt, und ich bin mit dem Fahrrad raus. Als ich zurückkam, war sie hier und brachte den Koffer mit.«
»Haben Sie die Briefe gelesen?«
»Dazu hatte ich keine Zeit.«
»Dann fangen Sie jetzt damit an.«
Die Kommissarin wandte sich zum Gehen.
»Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie etwas Wichtiges erfahren.«
Schon an der Tür erkundigte sie sich:
»Seit wann kennen Sie Herrn Lust?«
»Seit gestern, Zufallsbekanntschaft«, antwortete Frauke.
»Einige Zufälle zu viel, wenn Sie mich fragen«, kommentierte die Kommissarin knapp und schloss die Tür hinter sich.
Frauke schaute ihr irritiert nach. Kalt lief es ihr über den Rücken, Angst kroch in ihr hoch, ein schlummerndes Tier, welches, einmal aufgewacht, sich ihrer bemächtigte und ihr fast den Atem nahm. Zitternd und schluchzend begann sie, die Briefe ihrer Mutter zu lesen.
»Ruhe in Frieden!«
Der Pfarrer segnete das Grab, drückte Frauke die Hand und entfernte sich langsam. Es waren nur wenige Freunde und Nachbarn, die an diesem regnerischen Nachmittag mit Frauke am Grab von Larissa Norton standen. Andreas war nicht dabei. Frauke hatte ihn nicht erreichen können. Drei Tage nach dem Mord war die Leiche freigegeben worden, und Frauke hatte die Überführung nach Bielefeld veranlasst. Von dem Mörder keine Spur, die Briefe ihrer Mutter gaben keinen Anhaltspunkt, sie hatte sie Kommissarin Wiedemann zur Prüfung übergeben, die Fotos in den Koffer gepackt und mit genommen. Am nächsten Tag hatte sie einen Termin beim Notar, danach wollte sie wieder zurück ins Wangerland, schließlich hatte sie noch eine Woche Urlaub gebucht. Friedrich Lust hatte sich bei ihr nicht mehr gemeldet.
Die Wohnung von Larissa Norton sah aus, als sei die Besitzerin nur für wenige Minuten abwesend, in der Dusche lag der Duft ihres Shampoos, Fernseher und Stereoanlage waren stand-by geschaltet, in der Küche stand benutztes Geschirr, neben der Spüle lag eine Zeitung aufgeschlagen auf dem Tisch, und im Wohnzimmer blinkte der Anrufbeantworter. Frauke hatte den Briefkasten geleert, legte seinen Inhalt ungelesen auf den Couchtisch im Wohnzimmer und setzte sich in den gemütlichen Fernsehsessel. Larissas Gegenwart war so heftig zu spüren, dass ihr die Tränen kamen. Zum dritten Mal im Leben hatte sie einen geliebten Menschen verloren und diesmal auf eine grausame Art. Larissa war ihr Freundin und Mutter zugleich gewesen, wenn auch die spröde, manchmal herrische Art ihrer Tante so ganz anders war, als die ihrer Mutter. Frauke vermisste sie, und die Tatsache, dass sie ihr diese schöne Eigentumswohnung hinterlassen hatte und auch noch einiges an Erspartem, trug noch mehr dazu bei. Langsam begann sie, die Post durchzusehen. Ein Brief fiel auf durch seine Handschrift, etwas eckig, weil Druckbuchstaben verwendet wurden, aber gut leserlich. Es war der Brief eines Mannes, relativ förmlich erkundigte er sich nach ihrem Befinden und nach Frauke. Überrascht drehte Frauke den Brief mehrmals um, kein Absender, der Name abgekürzt, ein Stempel aus Bremen auf dem Umschlag. Wen kannte Larissa in Bremen? Nie hatte Frauke sie mit einem Mann in Verbindung gebracht. Der Text war kurz, fast geschäftsmäßig abgefasst, wenn auch mit der Hand geschrieben. Der Schreiber, ein gewisser Herr B. berichtete, dass es ihm und der Familie gut ginge. Fraukes Herz klopfte aufgeregt, denn B. konnte niemand anders sein als ihr Onkel, der Mann von Mutters Zwillingsschwester. Aus dem Brief schloss Frauke, dass er regelmäßig Kontakt zu Larissa gehalten hatte. Fast zehn Jahre hatte sie mit ihrer Tante zusammengewohnt und nichts davon mitbekommen. Seufzend erhob sich Frauke und schaute sich in der Wohnung um, in der Hoffnung, mehr zu entdecken. Stunden vergingen, sie hatte sich eine Pizza kommen lassen, bis sie endlich im Schlafzimmer der Tante in der Rückwand des Kleiderschranks eine kleine Schiebetür fand, die einen Wandtresor zum Vorschein brachte. Er war durch einen Code gesichert. Gerade in diesem Moment ging das Telefon. Mit klopfendem Herzen lief sie hin, die Nummer war ihr unbekannt. Sie nahm ab.
»Hallo, mit wem spreche ich?« erkundigte sich die Stimme am anderen Ende.
Als hätte sie sich verbrannt, fiel ihr das Telefon aus der Hand, sie keuchte. Die Stimme ihrer Mutter! Als sie sich beruhigt hatte, hob sie das schnurlose Telefon wieder auf, lauschte und setzte es in die Ladestation zurück. Erschöpft ließ sie sich in einen Sessel fallen, als ihr Blick auf den großen Umschlag fiel, den der Notar ihr mitgegeben hatte.
»Alle Unterlagen komplett, auch ein persönlicher Brief Ihrer Tante ist dabei.«
Sie sprang auf und schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Tisch. Das Testament ihrer Tante und ein schmaler Umschlag mit ihrem Namen. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn.
Geliebte Frauke, mein Kind.
Tränen rannen Frauke über das Gesicht, die Worte verschwammen vor ihren Augen, und sie wischte sich energisch durchs Gesicht, bevor sie weiterlas.
Sei nicht traurig, ich werde immer bei dir sein. Als ich dich mit nach Bielefeld nahm, war es der Wunsch deiner Mutter und meine Pflicht, aber du bist mir ans Herz gewachsen, mehr als ich je geglaubt habe, bleib‘ wie du bist und lass dich niemals irremachen in deinen Vorstellungen.
Für immer Larissa, die auch deine Mutter war. Gott schütze dich.
Am Ende des Briefes war ein Nachsatz.
‚Deine Mutter hat ihr Geheimnis nie verraten, aber ich finde, du musst die Wahrheit wissen. ‚
Darunter standen eine Zahlenkombination und der Hinweis auf den Safe.
Frauke hatte plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Die Wohnung lag im Parterre, sie trat ans Terrassenfenster und spähte hinaus. Nichts zu sehen, nur die Silhouette der Sparrenburg hob sich über den hohen Bäumen ab, die die Wohnanlage umsäumten, trotzdem ließ sie die Rollläden hinunter. Die Unterlagen des Notars packte sie wieder in den Umschlag und verstaute sie in ihrer Handtasche, den Brief der Tante steckte sie in ihre Hosentasche.
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