„Ist ja nur so eine Kritzelei.“
Er wusste nur zu gut, dass es leider nicht immer so leicht funktionierte wie beim Teschner. Sie hatten die Raucherecke erreicht.
„Dreamteam, da seid ihr ja endlich! Wollt ihr auch einen Lolli?“ Vince nahm seinen kugelrunden Lutscher aus dem Mund und hielt Alva und Felix die Tüte mit den gestreiften Zuckerdingern hin. Dann steckte er seinen eigenen wieder in den Mund, saugte daran und tat im nächsten Moment so, als würde er Rauch aus dem Mund blasen.
„Kannst du dich immer noch nicht damit abfinden, dass Rauchen auf dem Schulgelände verboten ist?“, fragte Alva und verdrehte die Augen. Vince lutschte weiter genüsslich an seinem Lolli und schob ihn dann in eine seiner Backentaschen.
„Es ist und bleibt Freiheitsberaubung“, dozierte er wie ein Universitätsprofessor. „Sind wir nicht vierzehn und dürfen unsere Religion frei wählen, allein in Urlaub fahren und uns an allen sichtbaren und unsichtbaren Stellen piercen lassen? Nicht zu vergessen: Niemand kann uns verbieten, Sex zu haben! Schon mal etwas davon gehört?“ Vince lächelte sein boshaftes Lächeln, bei dem eine seiner Augenbrauen bis zum Haaransatz in die Höhe rutschte. Felix wich seinem Blick aus. Die Aufzählung, die Vince ihnen unter die Nase gerieben hatte, verursachte ihm Übelkeit. Der Blödmann hatte doch überhaupt keine Ahnung! Felix setzte sich auf das Mäuerchen, das die Raucherecke begrenzte und hatte alle Mühe, das geheime Verlies in seinem Inneren unter Kontrolle zu halten. Einar, der sich sichtlich langweilte, sagte: „Oh, Mann, diese Diskussion schon wieder! Willst du wirklich zum hundertsten Mal über den Sinn oder Unsinn von Rauchverboten diskutieren? Damit hast du uns alle doch lange genug genervt!“ Pufu konnte ihm nur zustimmen. „Kannst du dich vielleicht endlich mal damit abfinden, dass es einfach Regeln gibt, die auch du einhalten musst? Regeln, die Sinn machen! Rauchen ist schließlich sowas von Scheiße.“ Er hatte ebenfalls einen Lolli in der Hand und steckte ihn nach diesen drei Sätzen entnervt wieder in seinen Mund.
„Aber die Freiheit! Leute, denkt doch mal nach: die Freiheit!“ Vince hatte sogar mal erwogen, eine Klage bei der Schulbehörde einzureichen, um seine Rauchfreiheit zu erlangen. Doch zum Glück hatten die anderen ihn von der Nutzlosigkeit einer solchen Aktion überzeugen können. Hamid, der keinen Lutscher brauchte und nur selten etwas sagte, sah zu Vince hinüber, aber eigentlich sah es eher so aus, als würde er durch ihn hindurchschauen.
„Freiheit ist doch nicht dafür da, dass jeder machen kann, was er will.“
Vince’ Augenbraue rutschte wieder nach oben.
„Unser persischer Klugscheißer! Der hat ja mal wieder ganz genau aufgepasst. Persisch oder war es arabisch? Wo kommst du noch mal her?“ Es war zwecklos, Hamid provozieren zu wollen. Der schaute nur auf die Spitzen seiner abgewetzten Sneakers und sagte trocken: „Ich bin Deutscher, in Köln geboren, wie du. Schon vergessen?“
Vince hob die Hände und spuckte den abgelutschten Stiel seines Lollis auf den Boden.
„Okay, okay, ich will euch nicht die Laune verderben. Ihr seid die Guten und ich hab mal wieder die Arschkarte gezogen. Lasst uns den Mantel des Schweigens über dieses Gerede ausbreiten. Gleich haben wir Englisch und die Klausur wird sicher nicht einfach.“
Man konnte über Vince denken, was man wollte, wenigstens wusste er, wann er aufhören musste. Aber er schickte noch etwas hinterher: „Übrigens, Leute, nicht vergessen, nächste Woche Samstag steigt endlich die Fete bei mir. Schreibt es euch rot in den Kalender!“
Nach der siebten Stunde war es diesmal Felix, der am Schultor stand und wartete, ob Alva noch kommen würde. Sie hatten nie darüber geredet, nichts vereinbart und kannten sich auch erst seit einem halben Jahr, als sie neu in die Klasse gekommen war. Trotzdem gab es diese stille Übereinkunft, dass einer auf den anderen wartete, um das Stück Weg gemeinsam nach Hause zu gehen, das sie miteinander teilten. Es passte einfach und fühlte sich gut an. Aber sie war nirgendwo zu sehen.
„Na, wie lief es?“
Vince schon wieder! Er blieb einfach vor ihm stehen. Aber vielleicht wusste er, wo Alva blieb. „Sind alle fertig mit der Klausur?“ Zusammen mit der Frage warf Felix einen schnellen Blick über den Schulhof und die Schüler, die dem Ausgang entgegenströmten.
„Ich war der Letzte“, antwortete Vince. „Gehst du ein Stück mit?“
Felix hatte eigentlich keine Lust, den Heimweg zusammen mit Vince anzutreten, aber er fürchtete, sich möglicherweise wieder irgendeinen dummen Kommentar anhören zu müssen, wenn er es nicht tat, von wegen Romeo wartet lieber noch oder etwas Ähnliches. Vince konnte sowas raushauen und lag damit doch vollkommen daneben. Außerdem wusste Felix ja tatsächlich nicht, ob Alva überhaupt noch kommen würde. Wie blöd, jetzt war doch Wochenende.
Kaum hatten sie die Schule hinter sich gelassen und waren um die nächste Ecke gebogen, hielt Vince an einem Betonpoller an, setzte sich und holte seinen Tabak aus der Tasche. Felix beobachtete, wie er das Papierchen aus dem Beutel zog, Tabak darauf streute und beides mit geschickten Fingern in eine ordentliche Zigarette verwandelte. Vince betrachtete sie noch einmal und sah dann Felix an, als warte er auf eine besondere Belobigung.
„Kann ich mir auch mal eine drehen?“
„Echt jetzt?“ Vince zögerte einen Moment. „Bisher reichte dir doch dein umwerfender Charme! Gib’s zu, ohne den hättest du keinen einzigen Wettkampf gewonnen.“
Felix war nicht nach Scherzen zumute.
„Vor allem, weil dieser Charme unter Wasser so besonders gut zur Geltung kommt!“
Oh, Mann, der war gut. Normalerweise fiel Felix die passende Antwort immer erst ein, wenn er abends im Bett lag.
„Okay.“ Vince zündete sich seine Zigarette an und gab Felix den Tabak. „Ich sehe, dass du dich auf deinen Charme wohl nicht mehr verlassen kannst! Behalt den Tabak. Das ist meine letzte Fluppe.“
„Wirklich? Du hörst tatsächlich auf?“ Felix nahm ein Blättchen und streute Tabak darauf.
„Ich sag’s dir, ihr habt mich kleingekriegt. Hab keinen Bock mehr darauf, dass ihr mich wegen ein paar Kippen wie einen Aussätzigen behandelt.“
„Wir dich?“ Felix musste sich aufs Drehen konzentrieren. Vince rückte näher und besah sich die Sache aus allernächster Nähe.
„Wird nichts“, urteilte er, „du bist noch nicht im richtigen Rollmodus. Das da ist mehr so die Faltmethode.“
Felix leckte das Papierchen an und drückte die Enden zusammen, dann hielt er das krumme Ding in die Höhe.
„Für den Anfang will ich mal nichts sagen“, raunte Vince. „Aber du weißt schon, dass du Sportler bist?“ Felix zuckte mit der Schulter, nahm die Zigarette, steckte sie sich zwischen die Lippen und ließ sich Feuer geben. Er nahm einen Zug, füllte seine Wangen mit Rauch und stieß ihn gleich wieder aus.
„Lass gut sein“, sagte Vince, „paffen kann jeder.“ Er hob die Hand und verabschiedete sich. „Nicht vergessen, immer schön fröhlich bleiben.“
Arschloch .
Mama war nicht zu Hause, ihre Schicht im Pflegeheim ging bis um sieben. Normalerweise hätte Felix jetzt das vorbereitete Essen heiß gemacht, sich eine halbe Stunde vor den Fernseher gehauen und dann den Bus zum Schwimmbad genommen. Heute gab er der Tasche mit seinem Schwimmzeug, die immer noch im Flur stand, nach dem Essen einen Tritt und ließ dann die Haustür hinter sich ins Schloss fallen, ohne eine Ahnung zu haben, was er jetzt tun würde. Bloß nicht stillsitzen. Er lief durch die ruhigen Vorortstraßen, wo nichts, aber auch gar nichts los war. Alle saßen anscheinend in ihren Bunkern oder waren bei der Arbeit und die klingenden Blumennamen waren ihnen sowas von scheißegal. Sie machten das Leben auch nicht besser. Sollte er Pufu anrufen, um ihn zu fragen, ob er Lust hatte, ein bisschen zu zocken? Mit ihm konnte man sich auch spontan verabreden, sie kannten sich seit der Grundschule. Aber der würde sich nur wundern, dass er Zeit hatte und nicht ins Schwimmbad fuhr. Außerdem war er wahrscheinlich selbst beim Training. Handball spielte er schon ewig.
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