Es ist unschwer zu erkennen, wie attraktiv eine solche Position ist, will man die Mensch-Tier-Beziehung möglichst überschaubar gestalten. Im ‚besten‘ Fall wird damit jede tiefere Tierethik überflüssig. Doch spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts war es um diese Überschaubarkeit geschehen. Seitdem ist es kompliziert geworden, sehr kompliziert (vgl. Petrus 2013).
Plötzlich wurde eine moralisch relevante Vergleichbarkeit der eigentlich doch dem Menschen vorbehaltenen Eigenschaften mit denen der Tiere propagiert. Und damit standen auch die von Gruen skizzierten zwei Implikationen der Annahme einer anthropologischen Differenz in der Kritik, denn es wurde immer offensichtlicher, dass auch etliche Tiere über jene Eigenschaften bzw. Fähigkeiten verfügen, die man lange nur dem Menschen eigen wähnte. Die Verhaltensforschung konnte Verhaltensformen bei etlichen Tieren nachweisen, die denen der Menschen erstaunlich nahe kamen (manche sogar übertrafen), sei es der Werkzeugbau, die Kommunikation, das soziale Netz oder die Fähigkeit zu strategischen Verhaltensweisen.
Und auch die zweite Implikation wurde durch die Zulassung eines Vergleichens (und damit eines moralischen Abwägens) zwischen menschlichen und tierlichen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten im Fundament erschüttert, denn gibt es nicht auch Menschen, denen die entsprechenden exklusiven Eigenschaften (etwa Selbstbewusstsein oder Vernunft) fehlen? Denken wir nur an Embryonen, Komapatienten, stark geistig behinderte oder schwer demente Menschen (die Ethik spricht mit Blick auf diese Gruppe von Menschen von den sogenannten nicht-paradigmatischen Fällen oder auch Grenzfällen). Müssten wir diese Menschen dann nicht ebenso moralisch ein-, also herabstufen, wie wir es mit den Tieren tun?
Es stand nun also eine sehr gewichtige ethische Frage in neuem Facettenreichtum im Raum: Gibt es nicht vielleicht doch gute Gründe für die moralische Berücksichtigung von Tieren, und wenn ja, welche sind das und auf welche Tiere treffen sie zu?
2.1.2Reichweite moralischer Relevanz
An dieser Stelle ist es sinnvoll, das Bild etwas weiter aufzuziehen und das bisher Gesagte in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ich möchte die Leser*innen an dieser Stelle mit ein paar Begriffen vertraut machen, die ich in der Folge immer wieder gebrauchen werde und deren Klärung daher früh vorgenommen werden muss.
Der Tierethik, wie auch der Bio-, Umwelt- oder Naturethik (wie auch immer sie im ethischen Theoriespektrum untereinander eingeordnet werden) liegt die Frage zugrunde, ob und in welchem Umfang wir Dingen ‚der Natur‘ einen Wert zusprechen. Ich habe ‚die Natur‘ in einfache Anführungszeichen gesetzt, weil eigentlich nicht wirklich klar ist, was wir damit meinen. Zumeist wird der Begriff der Natur eher intuitiv gebraucht und sich darauf verlassen, dass jeder in etwa weiß, was gemeint ist.
Gemeinhin werden die Positionen in der Natur- oder Umwelt- und Tierethik nach ihrer Reichweite unterschieden, also nach der Frage, wie viel oder welche Objektgruppen der Natur wir moralisch berücksichtigen müssen.
Die radikalste Form wäre hier der Anthropozentrismus (gr. άνθρωπος, ánthropos, Mensch), der allein Menschen um ihrer selbst willen als moralisch wertvoll erachtet und die Gemeinschaft moralisch schützenswerter Wesen auf den Menschen beschränkt. Der deutsche Philosoph KLAUS PETER RIPPE hat den Vorschlag eingebracht, besser von Ratiozentrismus zu sprechen, was etwas präziser die alleinige moralische Relevanz vernünftiger Lebewesen zum Ausdruck bringen soll (vgl. Rippe 2008).
Eine etwas weiter gefasste und vermutlich die am häufigsten anzutreffende Form der Tierethik ist der Pathozentrismus (gr. πάθος, páthos, das Leid). Gelegentlich wird diese Position auch Sententismus (lat. sentire, empfinden, fühlen) genannt. Ihr zufolge besitzen nicht nur Menschen, sondern alle empfindungsfähigen Lebewesen, also Wesen, die leiden können – worunter auch viele Tiere fallen –, einen moralischen Wert, den es zu berücksichtigen gilt. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft moralisch zu berücksichtigender Entitäten hängt also von der Fähigkeit ab, leiden zu können.
Der Biozentrismus von (gr. βίος, bíos, Leben) geht noch einen Schritt weiter und spricht nicht nur empfindungsfähigen Lebewesen, sondern allem Lebendigen einen moralischen Eigenwert zu, was insbesondere die gesamte Pflanzenwelt miteinschließt. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft moralisch zu berücksichtigender Entitäten hängt in diesem Fall also von dem Umstand ab, lebendig zu sein.
Dem Anthropozentrismus bzw. Ratiozentrismus am anderen Ende des Spektrums gegenüber steht schließlich der Physiozentrismus. Dieser kann als individueller Physiozentrismus tatsächlich jedem einzelnen Gegenstand einen moralischen Eigenwert zusprechen, also belebter wie unbelebter Materie, womit alles Existierende ein Recht auf Fortbestand hätte. Oder er kann als Holismus (gr. ὅλος, holos, ganz) die umfassendste Position einnehmen und die Natur als Ganzes für moralisch wertvoll erachten.
Soweit so gut. Es muss an dieser Stelle nun allerdings eine wichtige Unterscheidung getroffen werden. Bisher habe ich die vier möglichen Objektgruppen benannt, denen wir moralische Berücksichtigung zukommen lassen können. Diese Objektgruppen zeichnen sich, erinnern wir uns an das im vorherigen Teilkapitel Gesagte, durch bestimmte Eigenschaften aus, als da wären: ein menschliches Lebewesen zu sein (Anthropozentrismus), ein leidensfähiges Lebewesen zu sein (Pathozentrismus), überhaupt ein Lebewesen zu sein (Biozentrismus) und allgemein existent zu sein (Physiozentrismus).
Solche natürlichen Eigenschaften sagen allerdings noch nichts über irgendeine moralische Relevanz aus. Oder genauer gesagt: Die alleinige Benennung der moralisch relevanten Objektgruppen sagt noch nichts darüber aus, warum wir diese Objektgruppen moralisch berücksichtigen sollten. Wenn ein Anthropozentrist also sagt, dass nur menschliche Lebewesen moralisch zu berücksichtigende Objekte darstellen, muss er sich die Frage gefallen lassen, warum dies so sei. Gleiches gilt auch für den Pathozentristen, den Biozentristen und den Physiozentristen.
Ethiker müssen an dieser Stelle Argumente vorlegen, die ihre moralisch schützenswerte Objektgruppe begründen. Was zeichnet den Menschen für den Anthropozentristen als moralisch relevant vor allen anderen Lebewesen aus? Was zeichnet leidensfähige Wesen für den Pathozentristen als moralisch relevant vor allen anderen Lebewesen aus, usw.?
2.1.3Moralisch relevante Eigenschaften
Jede Tierethik muss zunächst die eine Grundfrage klären, die verschieden gestellt werden kann: Gibt es überhaupt Gründe, Tiere in die Gesellschaft moralisch relevanter Wesen aufzunehmen? Haben wir Tieren gegenüber überhaupt moralische Verpflichtungen? Müssen wir ihre Belange, sofern sie denn welche haben, überhaupt moralisch berücksichtigen? Diese Frage kann mit Ja oder Nein beantwortet werden.
Wird sie mit Nein beantwortet, dann werden tierliche Belange als moralisch irrelevant eingestuft. In diesem Fall hätten wir lediglich indirekte Pflichten gegenüber Tieren, was bedeutet, dass wir Tiere als Sachen ansehen, die irgendjemandem gehören. Indirekt sind die Pflichten deswegen, weil etwa Tierquälerei dann kein moralisches Vergehen an den Tieren selbst wäre, sondern entweder am Besitzer des Tieres oder an uns selbst, weil unsere Grausamkeit gegen das Tier etwas über unseren eigenen Charakter verriete.
Beantworten wir die Frage indes mit Ja, erkennen wir tierliche Belange zunächst einmal grundsätzlich als moralisch relevant an. Doch welchen Grund könnten wir haben, diese Frage mit Ja zu beantworten? Wie kommen wir darauf, dass Tiere moralisch zu berücksichtigende Wesen sind?
Tierethiken beantworten diese Frage in der Hauptsache mit dem Verweis auf bestimmte moralisch relevante Eigenschaften, welche Tiere in einer dem Menschen hinreichend ähnlichen Ausprägung besitzen. Die Frage ist dann nur, welche Eigenschaften hier die ausschlaggebenden sind.
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