3.5 Textkritische Grundkenntnisse
3.5.1 Die Bezeichnung der neutestamentlichen Textzeugen
Eine systematische Erfassung und Bezeichnung der neutestamentlichen Textzeugen führte als erster 1751/52 JOHANN JAKOB WETTSTEIN durch. Er unterschied Majuskeln (Bezeichnung mit großen Buchstaben: A = Codex Alexandrinus, B = Codex Vaticanus), Minuskeln (Zählung mit arabischen Ziffern) und Lektionare (Zählung wie bei den Minuskeln). Das bis heute gültige System der Zählung und Bezeichnung neutestamentlicher Handschriften führte 1908 der Tischendorf-Schüler C. R. GREGORY ein. Danach werden Papyri durch ein vorgesetztes P gekennzeichnet, Majuskeln durch eine vorgesetzte 0, Minuskeln und Lektionare werden durchgezählt, wobei ein l vor die Ziffer der Lektionare gesetzt wird.
3.5.2 Die Gliederung der neutestamentlichen Textzeugen
Die neutestamentlichen Handschriften können nach ihrem Inhalt, ihrer Schriftform oder ihrem Beschreibstoff gegliedert werden. Am gebräuchlichsten ist eine kombinierte Untergliederung in Papyri, Majuskeln, Minuskeln und Lektionare, wobei beachtet werden muss, dass sowohl Papyri als auch Pergamenthandschriften Majuskeln sind und sich unter den Lektionaren auch Papyri befinden.
Die ältesten neutestamentlichen Handschriften sind Papyri. Der Papyrus ist eine vornehmlich im Nildelta wachsende Sumpfpflanze, die schon seit dem 3. Jahrtausend v.Chr. als Schriftträger verwendet wurde. Die Papyri (Stand 2012: 127 Papyri) sind für die neutestamentliche Textkritik nicht nur wegen ihres hohen Alters, sondern vor allem aufgrund ihrer guten Textqualität von großer Bedeutung. Besonders wertvoll und wichtig sind die Chester-Beatty-Papyri P 45P 46P 47und die Bodmer Papyri P 66P 72P 74P 75. Eine der ältesten neutestamentlichen Handschriften P 52enthält Joh 18,31–33.37–38 und ist in das 2. Jh. zu datieren.
Bereits auf Pergament geschrieben sind die großen Bibelhandschriften des 4. und 5. Jh. (Majuskeln). Das aus den Häuten von Kleinoder Jungtieren (Ziege, Schaf, Esel) bestehende Pergament (gr. περγαμηνή) hat seinen Namen von König Eumenes von Pergamon, der 197–159 v.Chr. regierte und für seine Bibliothek dieses neue Schreibmaterial entwickelt haben soll. Das sehr beständige Pergament trat schon im 2. Jh. v.Chr. in Konkurrenz zum Papyrus und hielt sich als Schreibmaterial bis ins Mittelalter.
Die Majuskeln bestimmten die Textkritik bis weit ins 20. Jh. Von den bis heute verzeichneten 303 Majuskeln sind fünf besonders wichtig:
1.
01 Codex Sinaiticus
Dieser im Katharinenkloster am Sinai von C. v. Tischendorf entdeckte Kodex (1854 und 1859) enthält das gesamte Neue Testament und große Teile des Alten Testaments. Er wurde im 4. Jh. auf Pergament (Antilope) geschrieben und später teilweise mit Änderungen und Korrekturen versehen. Der Sinaiticus gehört im Wesentlichen zum alexandrinischen Texttyp und ist eine der wichtigsten neutestamentlichen Majuskeln, obwohl Tischendorf seine Bedeutung überschätzt hat.
Faksimileausgabe: D. Parker, Codex Sinaiticus: Facsimile Edition, Peabody 2011.
2. A 02 Codex Alexandrinus
Aus dem 5. Jh. stammt dieser Kodex, der das Alte Testament und den größten Teil des Neuen Testaments (es fehlen Mt 1,1–25,6; Joh 6,50–8,52; 2Kor 4,13–12,6) enthält. Die Handschrift ist seit dem 11. Jh. in der Bibliothek des Patriarchen von Aleaxandria nachweisbar und wurde 1627 dem englischen König geschenkt. Der Wert des Textes schwankt; ist er für die Evangelien gering zu bewerten, so ist für die Apk der Codex Alexandrinus die wichtigste Handschrift.
Faksimileausgabe: F. G. Kenyon, The Codex Alexandrinus, London 1909.
3. B 03 Codex Vaticanus
Die älteste erhaltene Pergamenthandschrift wurde um 350 n.Chr. geschrieben und ist seit 1475 in der Bibliothek des Vatikans nachgewiesen. Sie enthält fast das gesamte Alte Testament und das Neue Testament bis Hebr. 9, 14a (es fehlen die Pastoralbriefe, Phlm, Apk). Der Codex Vaticanus ist die bedeutendste Majuskel, vor allem wegen der Verwandtschaft mit P 75, die nahezulegen scheint, dass es im 4. Jh. keine durchgehenden Rezensionen des neutestamentlichen Textes gab, wie man bisher annahm.
Faksimileausgabe: Novum Testamentum e Codice Vaticano Graeco 1209 (Codex B), tertia vice phototypice expressum: Codices e Vaticanis Selecti etc. Vol. XXX, 1968.
4. C 04 Codex Ephraemi (rescriptus)
Diese im 5. Jh. entstandene neutestamentliche Handschrift wurde im 12. Jahrhundert abgeschabt und mit dem Text von Abhandlungen des Kirchenvaters Ephraem erneut beschrieben (= Palimpsest). Mit Hilfe chemischer Substanzen konnte der frühere Text durch Tischendorf wiedergewonnen werden. Der Kodex umfasst geringe Teile des Alten Testaments, aber mehr als die Hälfte des Neuen Testaments; nur vom 2Thess und 2Joh ist nichts erhalten.
Faksimilierter Typendruck durch C. v. Tischendorf, 1843.
5. D 05 Codex Bezae Cantabrigiensis
Dieser zweisprachige Kodex (griechischer Text links) wurde 1581 vom Nachfolger Calvins THEODOR BEZA (1519–1605) der Universität Cambridge geschenkt. Er enthält den größten Teil der Evangelien, die Apostelgeschichte und ein Bruchstück des 3Joh. Datiert wird die Handschrift ins 5. oder 6. Jahrhundert, ihr Entstehungsort ist umstritten (Südgallien oder Nordafrika). Wo D 05 mit der alten Überlieferung geht, ist er ein wichtiger Zeuge, abweichende Lesarten bedürfen einer genauen Prüfung.
Faksimileausgabe: Codex Bezae Cantabrigiensis quattuor Evangelia et Actus Apostolorum complectens Graece et Latine, 1899.
Die Masse der neutestamentlichen Handschriften sind Minuskeln, deren älteste datierbare (461) im 9. Jh. entstand (vgl. Nestle-Aland 27, S. 703–711/Nestle-Aland 28, S. 810–814). Die Minuskeln sind für die neutestamentliche Textkritik noch nicht voll ausgewertet; wegen ihrer teilweise hohen Textqualität gewinnen sie zunehmend an Bedeutung. Textkritisch bedeutsam sind die nach K. LAKE benannte Minuskelfamilie f 1und die nach W. H. FERRAR 22bezeichnete Familie f 13.
Eine eigene Gattung biblischer Handschriften stellen die Lektionare dar. Sie enthalten den biblischen Text aufgegliedert nach gottesdienstlichen Bedürfnissen und bieten vornehmlich den Koinetext 23.
3.5.3 Die alten Übersetzungen
Um 180 n.Chr. erfolgten die ersten Übersetzungen des neutestamentlichen Textes ins Lateinische, Syrische und Koptische.
1. Die lateinischen Übersetzungen
Die altlateinischen Übersetzungen des Neuen Testaments (Vetus Latina oder Itala) repräsentieren ein weites Spektrum sehr unterschiedlicher Handschriften (vgl. das Verzeichnis bei Nestle-Aland 27, S. 714–718/Nestle-Aland 28, S. 815–819). Die ältesten Handschriften stammen zwar erst aus dem 4./5. Jh., lassen aber teilweise deutliche Vorformen erkennen. Exakt nachweisbar ist die Benutzung lateinischer Handschriften beim Kirchenvater Cyprian um 250. So ist zu vermuten, dass zuerst in Nordafrika gegen Ende des 2. Jh. ein lateinisches Neues Testament existierte.
Die seit dem 7. Jh. in der abendländischen Kirche allgemein verbreitete (= vulgata) Form des lateinischen Textes heißt Vulgata. Sie erlangte im 16. Jh. in der katholischen Kirche amtliche Gültigkeit. Zumeist gilt die Vulgata als Werk des Hieronymus (340/350–420), was allerdings nur für das Alte Testament und die Evangelien zutrifft (Abschluss der Revision im Jahr 383).
2. Die syrischen Übersetzungen
Am Anfang der Übersetzungen des Neuen Testaments ins Syrische steht die zu Beginn des letzten Drittels des 2. Jh. verfasste Evangelienharmonie des Apologeten Tatian, genannt Diatessaron (διὰ τεσσάρων = durch die vier Evangelien). Umstritten ist, ob das Diatessaron ursprünglich auf Griechisch oder auf Syrisch abgefasst wurde, da lediglich aus der Benutzung und Kommentierung des Diatessarons durch Ephraem Syrus (ca. 306–373) Rückschlüsse möglich sind.
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