Unter den psychoanalytischen Autoren, die das Traumakonzept weiter entwickelt haben, sind u. a. folgende zu nennen: Abram Kardiner, Masud M. Khan, John Bowlby und Donald Winnicott (Übersicht bei Brett, 1993).
Trauma und Krieg
Der Amerikaner Abram Kardiner (1891 – 1981) verfasste sein Werk „The Traumatic Neuroses of War“ während des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1941 (Kardiner, 1941). Seine klinische Erfahrung ging zurück auf die psychotherapeutische Arbeit mit amerikanischen Soldaten, die im Krieg gegen Nazi-Deutschland und Japan kämpften. Er war der erste, der die massiven physiologischen Begleiterscheinungen traumatischer Reaktionen schon in der Namensgebung berücksichtigte, indem er von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose“ sprach. Kardiner formulierte ein Syndrom von Folgeerscheinungen, das in Vielem bereits als Vorläufer der heutigen Psychotraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gelten kann.
Bindungstrauma
Masud Khan (1924 – 1989) erweiterte Freuds Traumabegriff mit seinem Begriff des kumulativen Traumas (Khan, 1963) ( Kap. 1.2). Er war Schüler von Donald Winnicott (1896–1971), englischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, der die Auswirkungen von frühen Bindungstraumata in einflussreichen Werken beschrieb.
frühkindliche Deprivation
Der Brite John Bowlby (1907 – 1990) war einer der ersten Psychoanalytiker, die empirische Forschung mit psychoanalytischer Theorie und Praxis verbanden. So entstand das auch heute noch bedeutendste Standardwerk zum Deprivationstrauma, in dem die Auswirkungen von frühkindlicher Deprivation wie z. B. früher Elternverlust, häufig wechselnde Beziehungserfahrungen und Trennungstraumata zusammengefasst sind (Bowlby, 1976, 1987). Seine Forschungen waren der Beginn der heute sehr etablierten Bindungsforschung (Strauß, Buchheim & Kächele, 2002).
Stressforschung
belastende Umweltfaktoren
Eine dritte Forschungsrichtung, die wesentlich zur Entstehung der Psychotraumatologie beigetragen hat, ist die Stressforschung mit den Pionierarbeiten des Mediziners Hans Selye (1907 – 1982). Selye näherte sich der Frage belastender Umweltfaktoren als Internist unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Reaktionen und der Krankheiten, die durch kurz- oder langfristige Belastung hervorgerufen werden können.
Modell der Stressreaktion
Im Jahre 1936 formulierte er sein Modell der Stressreaktion mit den drei Phasen des Alarms, des Widerstandsstadiums und schließlich des Erschöpfungsstadiums. Die Alarmreaktion ist gekennzeichnet durch einen erhöhten Sympathicotonus und eine sympathicoton gesteuerte „Bereitstellungsreaktion“. Im Widerstandsstadium werden alle Reserven des Körpers mobilisiert, um die massive Belastung kompensieren zu können. So kommt es physiologisch etwa zur Produktionssteigerung von Nebennierenhormonen wie Cortisol und zur Erhöhung des Blutzuckerstoffwechsels ( Kapitel 1.7).
Dekompensation wichtiger Funktionen
Dauert der pathogene Umweltreiz, der „Stressor“, wie Selye ihn nannte, weiter an, so treten massive und zum Teil irreversible Folgen wie Dekompensation der Reproduktionsfunktionen und Sexualfunktionen, der Wachstumsvorgänge und der Immunkompetenz (Erschöpfungsstadium) auf.
Stressreaktion
Eine 28-jährige verheiratete Frau arbeitet als Chefsekretärin in einem großen Konzern. Sie begibt sich zu ihrem Hausarzt, da sie seit einigen Monaten unter Symptomen leidet, die ihr zunehmend Besorgnis bereiten. So ist sie häufig, insbesondere vor großen Besprechungen, sehr angespannt und nervös, leidet unter Herzklopfen und schwitzt stark. Zusätzlich sieht sie dann verschwommen und empfindet ein schwankendes Schwindelgefühl, das meist noch einige Stunden danach andauert Nach einer organischen Ausschlussdiagnostik berät der Arzt sie dahingehend, ihre Arbeitsprozesse klarer zu strukturieren und Aufträge, für die sie nicht zuständig ist, konsequent abzulehnen. Zudem soll sie sich mehr bewegen und ein Entspannungstraining erlernen.
Nach sechs Monaten stellt sie sich erneut vor. Sie habe die Hinweise „aus Zeitmangel“ nicht umsetzen können. Sie sei nun täglich schon während der Arbeit erschöpft, fühle sich ständig unter Druck, sie schlafe nicht mehr richtig, sei immer wieder erkältet und auch die Sexualität mit ihrem Partner habe deutlich nachgelassen. Der Hausarzt empfiehlt nun die Durchführung einer Kur.
Die Untersuchungen Selyes haben sich auf die Erforschung der Psychosomatik innerer Krankheiten sehr fruchtbar ausgewirkt. Da Selye auch schon psychologische Symptome beschrieben hat, die dem physiologischen Stressverlauf entsprechen, hat diese Forschungsrichtung insgesamt einen wichtigen Beitrag zu einer psychologischen und psychosomatischen Traumatologie geleistet.
Für die Traumaforschung wertvoll regte das Modell zur Analyse von Umweltfaktoren an, allerdings wurden erst sehr viel später, z. B. im sog. „transaktionalen Stressmodell“ nach Lazarus und Folkman (1984), subjektive „Vermittlungsgrößen“ wie z. B. Abwehr- und Copingprozesse berücksichtigt. Es entstand eine Forschungsrichtung, die sog. „Stress- und Coping-Forschung“, in der sich kognitiv-behaviorale Ansätze mit Konzepten der Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen aus der psychoanalytischen Ich-Psychologie verbinden.
1.4 Epidemiologische Daten
Prävalenz der PTBS
Die Angaben zur Prävalenz der PTBS schwanken in der Literatur zwischen 1,3 % bis 7,8 % der Allgemeinbevölkerung (Kessler et al., 1995), wobei bei Frauen von einer doppelt so hohen Inzidenzrate wie bei Männern ausgegangen wird (10 % vs. 5 %). Der aktuelle Deutsche Gesundheitssurvey beziffert die 12-Monats-Prävalenz für PTBS mit 2,4 %, wobei Frauen (3,8 %) deutlich häufiger betroffen sind als Männer (0,95 %) (Wittchen & Jacobi, 2012). Dieser geschlechtsspezifische Befund wurde in einer Reihe von Studien belegt. Die höhere Prävalenzrate bei Frauen begründen Kessler et al. (1995) damit, dass diese mehr schwerwiegende traumatische Ereignisse erleben (z. B. Kindesmisshandlung, Vergewaltigungen). Eine ebenfalls höhere Prävalenz des weiblichen Geschlechts konnte von Giaconia et al. (1995) unter Kindern und Jugendlichen festgestellt werden. Die Lebenszeitprävalenz bei 14- bis 18-jährigen Jugendlichen liegt zwischen 5 % und 10 % (Elklit, 2002). Bei 2- bis 5-jährigen Kindern wurde eine Prävalenzrate von 0,1 % ermittelt (Lavigne et al., 1996). Diese niedrige Rate spricht für eine mangelnde Adaptation der PTBS-Kriterien an das Kleinkindund Vorschulalter.
Die generellen Schwankungen in den Studien hängen mit der unterschiedlichen Verwendung der Diagnosekriterien und den verschiedenen Erhebungsbedingungen zusammen. In einer israelischen Untersuchung wurde die Diagnose bei Erwachsenen z. B. nur bei 3 % der Betroffenen vom Hausarzt gestellt (Taubman-Ben-Ari et al., 2001).
Abhängigkeit vom Situationstyp
Die PTBS entwickelt sich nach traumatischen Erfahrungen also unterschiedlich häufig (Flatten et al., 2011), wobei die Wahrscheinlichkeit hierfür auch von der Art des traumatischen Situationstyps abhängt. Exemplarisch zeigt die folgende Aufstellung die mögliche Spannbreite (Flatten et al., 2011):
ca. 50 % Prävalenz nach Vergewaltigung;
ca. 25 % Prävalenz nach anderen Gewaltverbrechen;
ca. 50 % bei Kriegs-, Vertreibungs- und Folteropfern;
ca. 10 % bei Verkehrsunfallopfern;
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