Komischerweise waren die Mädchen von diesem Zwang meistens ausgenommen, das war nicht gerecht.
In unmittelbarer Nähe zu dem Gebäudekomplex befand sich das alte Gutshaus. Die Nutzung dieses Gutshauses war äußerst vielseitig.
Es war mir unvorstellbar, dass dieses Riesengebäude nur eine Familie genutzt hatte, ganz gleich, wie groß sie war.
Andererseits musste es aber auch nicht so beengt sein, wie bei uns zu Hause. Zwei kleine Zimmer für vier Personen, das war das ganze Gegenteil von groß.
Der Haupteingang war in der ersten Etage über eine große Terrasse zu erreichen. Die erste Tür gleich links am Eingang im Inneren führte in den Kindergarten.
Die neuen Räumlichkeiten in einer Baracke 200 Meter entfernt waren noch nicht fertig, und so fand die Gemeinde hier zunächst einen Ersatz. Gegenüber von der Eingangstür zum Kindergarten ging es direkt in den Dorfkrug, einem großen Raum mit vielen Tischen, einem Tresen und meistens einem Haufen betrunkener Leute. Leider zog dieser Ort meinen Vater auch magisch an, mit einer scheinbar nur durch das Portemonnaie begrenzten Menge von Alkohol.
An beiden Türen vorbei, einen Flur entlang, ging es zu den ausschweifend großen Holztreppen zur zweiten Etage und weiter auf den riesigen Dachboden. Es schien so, als ob die Größe der Treppen in weiser Voraussicht für die zukünftige Nutzung gewählt worden war, ansonsten war dieser Überfluss für mich gar nicht erklärbar.
In der zweiten Etage waren ein paar Wohnungen, und auf dem Dachboden hatte sich die Kampfgruppe eingerichtet.
Mir schien, dass alle Männer aus dem Dorf hier Mitglied waren. Vater sagte, wenn man Mitglied der SED sei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, dann bestehe quasi die Pflicht, wobei es eher zwangsverpflichtend als freiwillig pflichtbewusst schien, bei der Kampfgruppe Mitglied zu sein. Unter Kämpfern stellte ich mir sowieso etwas anderes vor.
Es war egal, denn ich fand es zwischen all den Uniformen, Filzstiefeln, Stahlhelmen, diversen anderen Ausrüstungsgegenständen und den immer griffbereit stehenden Maschinenpistolen äußerst interessant, so als ob gleich irgendwas passieren würde. Hinzu kam diese eigenartige Geruchsmischung aus Waffen, Öl, überlagerten Uniformen, Männerschweiß und Alkohol.
Es war die Mischung, die einen eigentlich abstößt, aber auch irgendwie anzieht. Darüber hinaus, dass aus mir unerklärlichen Gründen kaum andere Kinder Interesse oder auch Zugang zu diesem Dachboden fanden. Ich konnte das somit nahezu allein genießen, und das Gefühl gefiel mir zusätzlich.
Das Thema Krieg und damit verbunden die Armee war gerade bei Familienfeiern zu fortgeschrittener Stunde immer wieder aktuell.
Nicht nur mein Vater, der als Deutschstämmiger in Litauen als Freiwilliger in einer Sondereinheit hinter den Linien seinen Dienst abgeleistet hatte und zu meinem Leidwesen einfach nicht gerne und schon gar nicht freiwillig von dieser Zeit erzählen wollte, hatte Kampferfahrung. Auch meine Onkels hatten etwas zu erzählen.
Der eine war in russischer Kriegsgefangenschaft und konnte gar nicht genug über die schlimmen Russen schimpfen und erzählte in allen Facetten darüber; der Bruder meiner Oma, der in Norwegen andere Erlebnisse gehabt zu haben schien, hielt die nicht für so erzählenswert.
Ich war also aus erster Hand mit einigen Aspekten des Militärs im Allgemeinen und bei wiederholten Feiern mit der russischen Kriegsgefangenschaft im Besonderen vertraut und fand es zu mindestens sehr interessant, wenn auch nicht erlebenswert.
Damit das aber gar nicht erst so weit kam, war ab Januar meines Geburtsjahrganges klar, dass wir Jungs NVA-Soldaten wurden, um gerade nicht die gleichen Geschichten erzählen zu müssen. Es sollten andere Geschichten werden, die letztendlich auch nur sinnvolle Lebenszeit vernichtet haben.
Zu Beginn meiner Schulzeit war Mutter ausschließlich Hausfrau, sie hatte Zeit, alles in Ruhe abzuarbeiten und fand sich nach meinem Eindruck auch selbst in dieser Rolle wieder.
Vater war der Auffassung, dass sie mit den Kindern, dem Haushalt und allem Übrigen genug zu tun hatte und er die Familie auch allein ernähren konnte. Hierbei nahm er bewusst in Kauf, dass bei den schlechten Verdienstmöglichkeiten in der LPG jede Ausgabe doppelt hinterfragt werden musste.
Als persönliche Konsequenz ließ er sich den Urlaub in den schweren Anfangsjahren prinzipiell ausbezahlen, sodass in der Folge die Familie nie zusammen Urlaub machen konnte.
Da ich den Urlaub an sich nicht und schon gar nicht außerhalb unseres Dorfes als Freizeitgestaltung kannte, vermisste ich zunächst auch nichts. Dieser Verlust sollte erst später in mein Bewusstsein treten.
Es war schwer genug, das Leben mit ein bisschen Wohlstand zu meistern, und so konzentrierte sich vieles wie selbstverständlich auf einen wesentlichen Kern von Leben, die Familie.
Die materielle Gleichschaltung der Lebensumstände war dazu eine wunderbare Voraussetzung. Nun musste nur noch abgesichert werden, dass der Tisch gut und lecker gedeckt war. Das bedeutete die Unterhaltung eines großen Nutzgartens, das Halten von Schweinen, Hühnern, Enten und Karnickel und damit verbunden die Bestellung von Rüben- und Kartoffelflächen, die nie unter einem Hektar groß waren, um die Viecher entsprechend füttern zu können.
Die aus diesem Umfang entstandenen Aufgaben schienen mir nahezu unbeherrschbar, umso mehr, wenn ich mit der Hacke auf dem Acker stand, die endlos erscheinende Reihe an zu verziehenden Rübenpflanzen bis zum Horizont vor mir hatte und schon beim blanken Anblick Rückenschmerzen bekam.
Die Arbeiten wurden jedoch von meinen Eltern in einer stoischen Ruhe erledigt, die einfach notwendig war, um jede Art von stupider, anspruchsloser Arbeit erledigen zu können. Die Arbeit schien ihnen wohl deshalb nie zu viel oder gar lästig zu sein.
Es war diese Einsicht in die Notwendigkeit, die bei der Mangelwirtschaft um uns herum meiner Mutter den Druck beim Einkauf von Lebensmitteln nahm und die absolute Prämisse von meinem Vater erfüllen ließ, auf dem Tisch immer genug zu essen zu haben.
Meine ältere Schwester und ich konnten in diesen Arbeiten natürlich nichts Sinnvolles erkennen, uns beiden war aber bewusst, dass wir nicht nur dank der Kochkünste meiner Mutter, sondern insbesondere aufgrund der aufwendigen Hauswirtschaft im Vergleich zu manch einem Klassenkameraden ein Schlemmerleben führten.
So ganz ohne Zwangseinsätze lief die Versorgung auch für uns nicht ab, aber im Wesentlichen wurden wir beide doch in Ruhe gelassen und konnten unseren Aktivitäten nachgehen.
Im Spätsommer 1972 war es wieder mal so weit, dass ein Schwein gut genug gemästet war, um geschlachtet zu werden.
Die Schweinehaltung war aufwendig aber auch bescheiden einträglich. Zu besten Zeiten standen fünf Schweine im Stall, wobei das Wort Stall deutlich übertrieben erschien. Eigentlich war unser Stall ein Bretterverschlag mit zwei Buchten. In der einen Bucht standen die ausgewachsenen Schweine und in der anderen die Ferkel. Gerade während der Fütterung verursachten die Viecher eine unglaubliche Geräuschkulisse, und ich hatte immer den Eindruck, dass sie glücklich quieken.
Vater kaufte in der Regel je zwei neue Ferkel. Auf einer schwarzen Tafel wurden Kaufdatum und Gewicht mit Kreide vermerkt. So konnte jeder erkennen, wann es entweder mit dem Verkauf oder mit der Schlachtung so weit war. Wenn irgend möglich, versuchte mein Vater pro Jahr ein Schwein zu verkaufen.
Mit der Limitierung an Futtergetreide und der mangelnden Bereitstellung von Futterkartoffeln und anderen Futtermitteln hatte er so seine Not, die angestrebten drei Zentner zu erreichen. Es war bei näherer Betrachtung eine wirkliche Last mit dem Viehzeug.
Den Luxus, sich das einzugestehen und womöglich noch den Schluss zu ziehen, es einfach nicht mehr zu machen, gab es nicht.
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