Vater konnte, für mich aufgrund der Vielzahl an Teilen unbegreiflich, einen Motor in all seine Bestandteile zerlegen und entsprechend auch wieder zusammenbauen.
Ich fragte mich, warum ein Werkstattleiter überhaupt arbeiten musste und nicht nur all seine Mitarbeiter anleitete.
Vater beatwortete mir diese Frage auch nicht wirklich, ich nahm an, dass er einfach nur Spaß an seiner Arbeit hatte und deswegen selbst mit anpackte.
Der Boden der riesigen Werkstatt war ganz und gar mit einer Mischung aus Motorenöl und Sandstaub bedeckt. Die ganze Fensterfront entlang standen Werkbänke aneinandergereiht, in der Halle verteilt waren unterschiedliche Arbeitsbänke mit schwerem Werkzeug, wie Maul- und Ringschlüsseln in riesigen Dimensionen, sowie Stahlwannen für abgelassenes Getriebe oder Motorenöl. Garniert wurde dieses scheinbare Durcheinander durch Ersatzteile für die verschiedenen zu reparierenden oder zu wartenden Maschinen.
Vater sah mit einer Art Armeeschirmmütze und dem schwarzen, ölverschmierten Overall fast verwegen aus, und somit sah ich ihm gerne bei der Arbeit zu.
Sein Spezialgebiet schienen festgelaufene Motoren zu sein. Er entfernte mit einem Ungetüm von Flaschenzug die Motoren aus den Halterungen des Motorraums und setzte sie auf dem Hallenboden auf bereitstehende Metallböcke ab. Nach und nach löste er die einzelnen Teile, bis die Kolben vor ihm auf dem Tisch lagen und die Analyse des Problems erfolgte.
„Vater, was machst du nun mit dem Teil?“, fragte ich.
Er versuchte, mir mit einfachen Erklärungen die Geheimisse der Motorentechnik nahezubringen, schilderte im Detail, was die Kolbenringe verraten, wo im Kolbengehäuse die problematischen Stellen liegen und wie mühsam das Schälen der Reibungsflächen mit einfachsten Hilfsmitteln, wie etwa einer Rasierklinge, funktionierte.
Ich war beindruckt und stolz und musste im gleichen Moment an meinen Freund Michael denken, dessen Vater Direktor an der Neuburger Oberschule war.
Ich fragte mich unwillkürlich, ob er das wohl auch kann. Unsere Väter und damit verbunden unser Umfeld waren so dermaßen unterschiedlich, dass ich mich spontan wunderte, wie wir eigentlich befreundet sein konnten.
Dieser Gedanke verflog sehr schnell, als sich die Hallentür öffnete und der LPG-Vorsitzende eintrat. Vater gab mir zu verstehen, dass ich gehen sollte, und ich tat so, als ob ich nur kurz dagewesen war, um eine Frage zu stellen.
Ich mochte Herrn Bräuer nicht und grüßte nur kurz und verabschiedete mich von Vater. Petra, seine Tochter, ging mit mir in eine Klasse und da ich sie gut leiden konnte, war mir vollkommen unklar, wie sie so einen unsympathischen Vater haben konnte.
Herr Bräuer hatte mich vor gar nicht allzu langer Zeit von einem Radtraktor heruntergeschmissen, der auf dem LPG-Gelände stand. Vater kam zufällig dazu und geriet über die Art und Weise mächtig mit ihm in Streit.
Natürlich war Herr Bräuer im Recht, aber mir schien, dass auch noch andere Gründe für den heftigen Wortaustausch eine Rolle spielten. Ich hatte mit meinen Kumpels auch immer mal wieder kleinere und manchmal auch größere Reiberein, das renkte sich aber immer wieder ein, und insofern konnte das bei den Erwachsenen ja auch nur so sein, zumal sie ja immer vorgaben, alles viel besser zu verstehen.
Unmittelbar am LPG-Gelände befand sich ein Karree aus rotem Ziegelstein, das an einer Seite offen war.
Ursprünglich müssen es Pferdestallungen von dem Gutsherrn im Dorf gewesen sein, aber mit den Jahren wurde daraus eine Ansammlung mit unterschiedlichsten Verwendungen, und das verlieh dem Ganzen eine eigentümliche Aura. Der der LPG zugewandte Teil des Karrees beherbergte immer noch einen Pferdestall, der mit einer Wand direkt an das Schlafzimmer meiner Oma grenzte.
Ihre Wohnung erstreckte sich in Verlängerung des Pferdestalls hinaus bis zur Ecke des Karrees und weiter mit zwei Räumen um die Ecke herum in Richtung Westen.
So wie Oma wohnte, musste es auch auf einem Bauernhof sein: der Ofen mit der Feuerstelle in der Küche, zwei alte Holzküchenschränke mit Waagen, Kaffeemühle, Bretter und vieles mehr. Gleich von der Küche ging es in eine Art Wirtschaftsraum mit Brennmaterial, Blechwannen, Gartengeräten, Bottichen, einer Räucherkammer und Unmengen eingeweckter Lebensmittel aller Art.
Gerade wenn wir mal wieder ein Schwein geschlachtet hatten, ging es hier hoch her. Die Schweinebraten wurden gepökelt und in den Holzbottichen eingelegt, die Räucherkammer war mit allen möglichen Würsten und Schinken übervoll, und es wurde gefeiert.
Ein Rätsel war mir allerdings, wie Oma es aushielt, jedes Mal gut 50 Meter bis zum Plumpsklo zu gehen. Es war mir ein Graus, in diesen Bretterverschlag am Ende des Karrees mit einem undefinierbaren dunklen, irgendwie Angst einflößenden Loch zur Toilette zu gehen. Alle versuchten mir dann einzureden, dass ich schon ein großer Junge war, wenn ich das allein schaffte. Aber schon dieses harte Zeitungspapier, das erst weich geknetet werden musste, bevor es überhaupt irgendwie nutzbar war, war einfach nur schlimm.
Oma kannte aber nichts anderes und somit war es für sie nie ein Problem.
Ich war so froh, dass wir zu Hause schon einen Schritt weiter waren und unsere Toilette die Nutzung von Zeitungspapier nur verstopft hätte. Über ihrer Eckwohnung befand sich die Mühle, die von unserem Nachbarn Herrn Rühs betrieben wurde.
Das Getreide der LPG für die Tierproduktion der LPG und die zahlreichen Eigenversorger, wie wir selbst, wurde hier verarbeitet. Die steile Treppe führte direkt hinter dem Küchenfenster meiner Oma auf den Mühlenboden, und mit Betreten desselben war man in einer anderen Welt. Eigentlich hätte es pro Tag diverse Abstürze mit Schwerverletzten geben müssen, denn die Stufen waren schmal, die Treppen steil und die Arbeitsschuhe rau und groß gearbeitet.
Aber es passierte nichts.
Ich dachte mir, dass allen klar war, dass ein Sturz nur tödlich enden konnte, und das machte vorsichtig.
Die vorhandene abenteuerliche Balkenkonstruktion und das Fachwerk waren über und über mit Mehlstaub bedeckt, und somit sah der ganze, sehr enge Dachboden wie eine weiße Märchenwelt aus.
Schräg gegenüber der Treppe auf der anderen Wandseite befand sich die Luke, durch die die Korn- und Mehlsäcke mit Hilfe eines Seilzuges abgelassen wurden.
Was von oben wie von unten unheimlich interessant aussah, war für meine Oma nicht so lustig, da sich unter der Luke genau ihr Schlafzimmerfenster befand.
Da Herr Rühs unser Nachbar war, ich mit seinen Söhnen zwei gute Spielkameraden gefunden hatte und mein Vater durch unsere kleine Tierhaltung immer Bedarf an rationierten Getreidesäcken hatte, war mein Zutritt zur Mühle frei. Auch wenn ich es nicht übertreiben durfte, so ließ er mich gewähren.
Gleich neben der steilen Treppe war ein weiterer kleiner Pferdestall von Herrn Gerdes, dem ehemaligen Kutscher der damaligen Gutsfamilie von Vieregge, die dem Dorf letztendlich das jetzige Kulturhaus spendierte.
Zur Herbstfurche im Garten lieh sich Vater immer mal wieder ein Pferd aus, um den Pflug zu ziehen. Ich war über die Ausmaße dieser Arbeitspferde immer wieder erstaunt.
Vater hatte auf der Siedlung in Neuendorf auch ein Pferd und konnte damit umgehen. Irgendwann stand kein Pferd mehr zur Verfügung, und so durfte ich es ersetzen.
Ich war meinen Eltern jedoch unendlich dankbar, dass sie mich prinzipiell nie zur Gartenarbeit genötigt haben. Die in der Summe überschaubaren Einsätze meinerseits konnten insofern auch nicht zu einer negativen Grundeinstellung zu dieser Art von körperlicher Arbeit führen.
Einige meiner Mitschüler waren in dieser Beziehung deutlich unter Druck, auf dem Dorf ja eigentlich auch nichts Besonderes, aber dieser Zwang, der immer wieder aufs Neue bestand, hatte aus meiner Sicht so gar nichts mit einer angemessenen Erziehung zu tun. Hier hatte man entweder Glück, wie ich, oder eben Pech.
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