3. Rechtsschutz im gestreckten Vollstreckungsverfahren
706
Der Rechtsschutz gestaltet sich nach allgemeinen Grundsätzen jeweils akzessorisch zur Handlungsform. Deshalb sind nicht nur beim Rechtsschutz gegen die Grundverfügung, sondern auch gegen die Androhung und die Festsetzung Widerspruch und Anfechtungsklage statthaft. Dies wird für die Androhung in § 18 Abs. 1 S. 1 VwVG klargestellt und ergibt sich für die Festsetzung aus deren Rechtsnatur[49]. Zu beachten ist, dass Landesrecht oftmals vorsieht, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen in der Vollstreckung keine aufschiebende Wirkung entfalten[50]. Aus der Rechtsnatur der Anwendungals Realakt folgt konsequenterweise, dass die allgemeine Leistungsklage statthaft ist, wenn und soweit die Vollstreckung noch rückgängig gemacht werden kann. Anderenfalls verbleibt die Möglichkeit zur Erhebung einer allgemeinen Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO.
4. Sofortiger Vollzug, unmittelbare Ausführung
707
Der sofortige Vollzug ist geregelt in § 6 Abs. 2 VwVG. Im Falle einer aktuellen Gefahrenlage kann der Erlass eines VA mit anschließendem Vollstreckungsverfahren nicht abgewartet werden, sondern es muss sofort gehandelt werden. In diesem Fall und in vergleichbaren Fällen kann die Behörde – in aller Regel der vor Ort anwesende Polizist – sofort und unmittelbar die erforderlichen Zwangsmaßnahmen anordnen; auf den Erlass eines VA kommt es nicht an. Die Rechtsnatur des Sofortvollzugs nach § 6 Abs. 2 VwVG ist umstritten. Nach einer früher häufig vertretenen Ansicht ist er ein VA, da mit ihm die Grundverfügung und/oder die Verwaltungsakte des Vollstreckungsverfahrens gleichsam ersetzt werden[51]. Richtigerweise handelt es sich aber mangels Regelungswirkung um einen Realakt[52].
708
Der sofortige Vollzug nach § 6 Abs. 2 VwVG ist zunächst abzugrenzen vonder Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr 4 VwGO, welche sich auch hinter dem Begriff des „sofortigen Vollzugs“ nach § 6 Abs. 1 VwVG verbirgt. In § 80 Abs. 2 S. 1 Nr 4 VwGO und § 6 Abs. 1 VwVG geht es um die sofortige Vollziehung einer bestehenden Grundverfügung, während § 6 Abs. 2 VwVG die Vollziehung ohne Grundverfügung zum Gegenstand hat[53].
709
Der sofortige Vollzug ist darüber hinaus abzugrenzen von der unmittelbaren Ausführung, die in § 19 BPolG sowie in einigen Landespolizeigesetzen anzutreffen ist (zB § 15 ASOG Bln)[54]. Das gemeinsame Wesen beider Maßnahmen liegt darin, dass aufgrund der Eilbedürftigkeit eine Vollstreckung ohne vorausgehenden Grundverwaltungsakt möglich ist. Aufgrund dieser Wesensverwandtschaft werden teilweise die Bestimmungen zur unmittelbaren Ausführung als speziellere Norm für das Polizeirecht eingestuft[55]. Allerdings wäre eine solche Doppelregelung nur schwerlich verständlich. Die besseren Gründe sprechen daher für eine differenzierende Betrachtung: Muss der (hypothetische) Wille des Betroffenen gebrochen werden, handelt es sich um einen sofortigen Vollzug. Werden Polizei- und Ordnungsbehörden hingegen nach dem (mutmaßlichen) Willen des Betroffenen tätig, handelt es sich um eine unmittelbare Ausführung[56]. Letzteres ist etwa anzunehmen, wenn es um die Rettung eines Bewusstlosen vor dem Ertrinken geht[57]. Diese differenzierende Betrachtungsweise führt im praktischen Ergebnis dazu, dass häufig § 6 Abs. 2 VwVG einschlägig sein wird. Daher erfolgt im Folgenden eine Fokussierung auf den sofortigen Vollzug[58].
b) Voraussetzungen für den sofortigen Vollzug
710
Die Voraussetzungen für den sofortigen Vollzug sind in § 6 Abs. 2 VwVG geregelt. Erforderlich ist danach zunächst, dass entweder eine rechtswidrige Tat verhindert werden soll, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklicht, oder dass er zur Abwendung einer drohenden Gefahr notwendigist. Das Merkmal der Notwendigkeit impliziert, dass ein gestrecktes Vollstreckungsverfahren nicht möglich ist oder gleich wirksam wäre[59].
711
Darüber hinaus muss die zuständige Behörde „ im Rahmen ihrer Befugnisse“handeln. Dazu müssen alle formellen und materiellen Voraussetzungen für ein Einschreiten vorliegen. Da im Fall des § 6 Abs. 2 VwVG aus Dringlichkeitsgründen zuvor gerade kein VA vorausgeht, sind an dieser Stelle die Voraussetzungen einer fiktiven Grundverfügung zu prüfen. Sie ist deswegen fiktiv, weil sie gerade nicht erlassen wurde. Anders als beim gestreckten Verfahren (s.o. Rn 701) ist diese fiktive Grundverfügungnicht nur auf ihre Wirksamkeit, sondern auf ihre Rechtmäßigkeithin zu untersuchen[60]. Diese unterschiedliche Behandlung findet ihre Rechtfertigung im Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG: Denn in der Situation des § 6 Abs. 2 VwVG bestehen im Unterschied zu § 6 Abs. 1 VwVG keine sonstigen Möglichkeiten zur Prüfung der vollständigen Rechtmäßigkeit unter Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit.
712
Liegen die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 VwVG vor, so darf die Behörde auch dann vollstrecken, wenn ein Grundverwaltungsakt erlassen worden ist oder wenn ein Zwangsmittel wegen Eilbedürftigkeit nicht angedroht oder festgesetzt werden kann. Die Zulässigkeit eines solchen verkürzten Verfahrensergibt sich in einem Erst-recht-Schluss aus § 6 Abs. 2 VwVG[61]. Die Vorschrift ist in solchen Fällen analog anzuwenden[62]. Fraglich erscheint allerdings, ob auch in solchen Konstellation die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung zu prüfen ist[63] oder lediglich deren Wirksamkeit[64]. Hier sollte nach dem Grundgedanken der unterschiedlichen Behandlung zwischen gestrecktem Vollstreckungsverfahren und sofortigem Vollzug differenziert werden: Wenn und soweit Rechtsschutz gegen die Grundverfügung möglich ist, genügt deren Wirksamkeit. Anderenfalls – und damit wohl im praktischen Regelfall – bedarf es einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit.
713
Der sofortige Vollzug bzw. die unmittelbare Ausführung sind nach dem Gesagten zwar als Realakte einzuordnen (s.o. Rn 707). Deshalb wären grundsätzlich die allgemeine Leistungsklage bzw. die allgemeine Feststellungsklage statthaft. Allerdings hat der Bundesgesetzgeber für den sofortigen Vollzug nach § 6 Abs. 2 VwVG in § 18 Abs. 2 VwVG angeordnet, dass auch insoweit die Rechtsmittel gegen Verwaltungsaktestatthaft sind, also Widerspruch, Anfechtungsklage sowie im Fall der Erledigung die Fortsetzungsfeststellungsklage[65].
714
Lösung Fall 21 ( Rn 677):
Es liegt eine Gefahr vor. A ist Zustandsstörer und zu ihrer Beseitigung auf seine Kosten verpflichtet. Diese Folge ergibt sich aus allgemeinem Polizeirecht. P muss den A nicht auffordern, die Bombe zu entfernen, sondern darf sofort handeln, § 6 Abs. 2 VwVG. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 10 VwVG. Die Polizeibehörde hat A die Kosten für die Delaborierung mit Recht in Rechnung gestellt[66].
Ausbildungsliteratur:
App , Einführung in das Vollstreckungsrecht, JuS 2004, 786; Enders/Jäckel , Polizei- und Ordnungsrecht – Umweltschädlicher Kraftstoffdiebstahl, JuS 2018, 150 (Fallbearbeitung zur unmittelbaren Ausführung); Erichsen/Rauschenberg , Verwaltungsvollstreckung, JURA 1998, 31; dies. , Rechtsschutz in der Verwaltungsvollstreckung, JURA 1998, 323; Gusy , Verwaltungsvollstreckung am Beispiel der Vollstreckung von Polizeiverfügungen, JA 1990, 296 und 339; Henneke , Verwaltungszwang mittels Zwangsgeld, JURA 1989, 7 und 64; Muckel , Verwaltungsvollstreckung in der Klausur, JA 2012, 272 und 355; Otto , Cafétische in der Sackgasse?, AL (Ad Legendum) 2018, 191 (Fallbearbeitung zur Ersatzvornahme); Voßkuhle/Wischmeyer , Verwaltungsvollstreckung, JuS 2016, 698.
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