717
Der örV weist eine Doppelnaturauf[4]. Er ist zunächst Bestandteil und Abschluss eines Verwaltungsverfahrens i.S.d. § 9. Zugleich ist er materiell-rechtliches Rechtsgeschäft. Denn er ist auf die Begründung, Änderung oder Aufhebung eines Rechtsverhältnisses gerichtet.
718
Die §§ 54 – 62 gelten seit dem Inkrafttreten des VwVfG (s.o. Rn 100) nahezu unverändert. Seit dem Jahre 2004 liegt jedoch ein Bund-Länder-Musterentwurf zur Fortentwicklung der §§ 54 ffvor[5]. Insbesondere soll darin der neue Vertragstyp eines Kooperationsvertrags Eingang in das VwVfG finden. Damit soll insbes. den Anforderungen an eine Public Private Partnership nach modernem Verständnis Rechnung getragen werden[6].
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 17 Der öffentlich-rechtliche Vertrag› II. Rechtsgrundlagen
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Die zentralen Rechtsgrundlagen für örVe bilden §§ 54 ff. Sie enthalten jedoch – abgesehen von §§ 55, 56 – nur wenige detaillierte Bestimmungen. In § 62 S. 1 wird daher die ergänzende Geltungen der sonstigen Bestimmungen des VwVfGangeordnet. Zu den für den örV relevanten Bestimmungen gehören etwa die Vorschriften zur Befangenheit nach §§ 20 f, die bereits im Zusammenhang mit dem VA behandelt wurden (s.o. Rn 480)[7]. Darüber hinaus kommen gemäß § 62 S. 2 die Vorschriften des BGBzur ergänzenden Anwendung. Besondere Bedeutung erlangen die Regelungen zu den Leistungsstörungen (dazu unter Rn 811)[8]. Schließlich sind die inhaltlichen Detailregelungen oftmals im Fachrechtenthalten. So wird der Abschluss städtebaulicher Verträge maßgeblich durch §§ 11 f BauGB gesteuert[9]. Die folgenden Darstellungen konzentrieren sich auf die §§ 54 ff.
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 17 Der öffentlich-rechtliche Vertrag› III. Die Begriffsmerkmale des öffentlich-rechtlichen Vertrags
III. Die Begriffsmerkmale des öffentlich-rechtlichen Vertrags
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Nach § 54 S. 1 handelt es sich um einen örV, wenn ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts durch Vertrag begründet, geändert oder aufgehoben wird. Demnach kommt es auf drei Elemente entscheidend an: Es muss sich
(1.)um einen Vertraghandeln, dieser muss seinen Regelungsgegenstand
(2.)auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtshaben, der Regelungsgegenstand muss
(3.)auf die Begründung, Änderung oder Aufhebung eines Rechtsverhältnissesabzielen.
1. Vertrag
a) Übereinstimmende Willenserklärungen
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Der örV ist ebenso wie der zivilrechtliche Vertrag die von zwei oder mehreren beteiligungs- und handlungsfähigen Rechtssubjekten erklärte Willensübereinstimmung, die darauf abzielt, eine von den Vertragspartnern beabsichtigte rechtliche Wirkung herbeizuführen[10]. Der Vertrag kommt durch Angebot und Annahmezustande; §§ 145 ff BGB finden ergänzend Anwendung, soweit sich nicht aus dem VwVfG etwas anderes ergibt, s. § 62 S. 2. Dem eigentlichen Vertragsschluss vorgelagert ist die Entscheidung für die Handlungsformdes Vertrags, welche grundsätzlich im Auswahlermessen der öffentlichen Verwaltung steht („kann“). Sie ist regelmäßig nicht als VA einzustufen, sondern als schlicht-hoheitliche Maßnahme[11].
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Die Wirksamkeitder Willenserklärungen von privaten und öffentlich-rechtlichen Rechtssubjekten beim Abschluss eines örVs bestimmen Regeln des öffentlichen Rechts; nach § 62 S. 2 finden Vorschriften und Rechtsinstitute des bürgerlichen Rechts ergänzende Anwendung: §§ 104 ff, 116 ff, 164 ff, 177 ff BGB sind entsprechend anzuwenden, soweit nicht die VwVfGe entgegenstehende Vorschriften enthalten[12]. Trotz fehlenden Erklärungsbewusstseins kann eine Willenserklärung vorliegen, wenn der Erklärende bei Anwendung der auch im Verwaltungsverfahren erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, dass seine Äußerung nach Treu und Glauben als Vertragserklärung aufgefasst werden durfte, und wenn der Empfänger sie auch tatsächlich so verstanden hat[13]
. Auf die ausdrückliche Bezeichnung des Vertrags als „Vertrag“ oder „Vereinbarung“ kommt es nicht an[14].
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Der Gegenstand des Vertrags sowie die vereinbarten Regelungen müssen bestimmt oder bestimmbar sein. Ob die abgegebenen Willenserklärungen übereinstimmen, ist durch Auslegungzu ermitteln, § 157 BGB. Die Auslegung muss an der Wirksamkeit des Vertrags orientiert sein[15]. Eine ergänzende Vertragsauslegung ist zulässig[16]. Eine Umdeutung ist grundsätzlich erlaubt, wenn ein nichtiges Rechtsgeschäft einem anderen vermutlich gewollten Rechtsgeschäft entspricht.
b) Abgrenzung zu ähnlichen Handlungsformen
aa) Abgrenzung zum zustimmungsbedürftigen Verwaltungsakt
724
Vom VA ist der örV dadurch abzugrenzen, dass der VA eine einseitige hoheitliche Regelung enthält; ihm fehlt es deshalb an den übereinstimmenden Willenserklärungen. Dies gilt auch für den zustimmungsbedürftigen VA, der insbes. antragsbedürftige VAe erfasst (zum Begriff s.o. Rn 389). Denn dieser bleibt auch dann eine einseitige behördliche Maßnahme, wenn er dem Willen des Betroffenen entspricht. Die Zustimmung des Adressaten ist nur Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des VA[17].
bb) Abgrenzung zum informellen Verwaltungshandeln
725
Vom örV ist das informelle Verwaltungshandeln zu unterscheiden, das in der Verwaltungspraxis in jüngerer Zeit eine immer größere Rolle spielt. Dies gilt etwa für das Umweltrecht[18] oder das öffentliche Wirtschaftsrecht[19]. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „Absprachen zwischen der Verwaltung und Privaten“.
Beispiel:
Die zwischen dem Bundesminister für Umwelt und der Deutschen Automobilindustrie getroffene Verabredung, Autos in der Weise zu bauen, dass sie in der Zukunft möglichst vollständig recycelt werden können.
Ob es sich bei solchen „Vereinbarungen“ um örVe handelt, ist abhängig davon, ob eine solche „Vereinbarung“ einen Rechtsbindungswillenenthält. Dieser ist durch Auslegung zu ermitteln; es handelt sich um ein Problem des Einzelfalls. Wenn eine verbindliche Rechtsfolge vereinbart ist, handelt es sich um einen örV. Fehlt es daran, so fehlt es gleichzeitig an einem rechtsnormativ vorgegebenen Rahmen zur Behandlung solcher „Vereinbarungen“, da das VwVfG sich zu diesen „Agreements“ nicht äußert[20].
cc) Abgrenzung zu sonstigen verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnissen
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Der örV begründet ein verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis. Von ihm sind „sonstige verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse“ abzugrenzen (dazu § 18). Entscheidend ist der Begründungsakt: Ist er einseitig, etwa ein VA, so fehlt es an einem örV. Das Gleiche gilt für die Verwaltung, Nutzung, Beschlagnahme und Sicherstellung beweglicher oder unbeweglicher Sachen. Ebenso bringen öffentlich-rechtliche Nutzungsverhältnisse auf Grund einseitiger Leistungsanforderung (zB nach dem Bundesleistungsgesetz – BLG) im Normalfall keinen örV zur Entstehung.
Beispiel:
Nach § 2 Abs. 1 Nr 1 BLG kann die Überlassung von beweglichen Sachen zum Gebrauch angefordert werden. Liegen die weiteren Voraussetzungen des BLG vor, kann die zuständige Behörde zB bestimmte PKW (geländetaugliche Wagen) anfordern und sie nutzen. Die Nutzung des PKW führt nicht zu einem örV.
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