649
Die Rechtswidrigkeit eines VA kann sich auch aus einem Verstoß gegen Unionsrecht ergeben. Dieses genießt gegenüber dem innerstaatlichen Recht Anwendungsvorrang. Zudem müssen beim Vollzug unmittelbar geltenden oder umgesetzten Unionsrechts das Äquivalenzprinzipund das Effektivitätsprinzipbeachtet werden (s.o. Rn 53). Letzteres besagt, dass eine Verwirklichung des Unionsrechts nicht vereitelt oder praktisch unmöglich gemacht werden darf[100]. Es ist gleichsam möglichst effektiv zu vollziehen. Allerdings hat der EuGH auch gewisse Grenzendes Effektivitätsgebots anerkannt: Insbes. kann der Grundsatz der Rechtssicherheit einer Aufhebung zeitliche Grenzen setzen[101]. In diesem Spannungsverhältnis sind die einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts auszulegen. Das Effektivitätsprinzip kann einerseits bewirken, dass „flexible“ Bestimmungen unionsrechtskonform auszulegen sind, andererseits entgegenstehendes Recht verdrängen[102].
2. Rücknahme belastender Verwaltungsakte
650
Keiner „Nachjustierung“ der innerstaatlichen Vorschriften bedarf es grundsätzlich bei der Rücknahme belastender VAe[103]. Insbes. hat der EuGH die Normierung angemessener Ausschlussfristenals vereinbar mit dem Unionsrecht erachtet[104]. Zu einer Aufhebung trotz bereits eingetretener Bestandskraft sind die Behörden der Mitgliedstaaten nur dann verpflichtet, wenn besondere Umstände des Einzelfalles dies indizieren. Dies ist etwa bei der Perpetuierung eines Ausreiseverbots anzunehmen, weil dadurch die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freiheiten in ihr Gegenteil verkehrt würden[105].
3. Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte
a) Unionsrechtlicher Rahmen für die Vergabe von Beihilfen
651
Erhebliche praktische und zugleich klausurrelevanteAuswirkungen haben die Einwirkungen des Unionsrechts bei der Rücknahme begünstigender VAe. Dies gilt insbes. für die Rückforderung von Beihilfen, die nicht in Einklang mit dem Unionsrecht stehen[106]. Beihilfen sind nach dem Verständnis des Art. 107 AEUV staatliche Maßnahmen, welche in verschiedener Form die von einem Unternehmen normalerweise zu tragenden Belastungen vermindern[107]. Der Begriff der Beihilfeentspricht in vielen Elementen demjenigen der Subvention, ist jedoch von dieser zu unterscheiden[108]. Die materielle Rechtmäßigkeit einer Beihilfe richtet sich nach Art. 107 AEUV[109], die formelle Rechtmäßigkeit nach Art. 108 AEUV, flankiert durch eine Verfahrens-VO. Insbes. sieht Art. 108 Abs. 3 AEUV ein Notifizierungsverfahren vor der Kommission vor: Nach dessen S. 1 muss die Kommission über jede beabsichtigte Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe rechtzeitig unterrichtet werden[110]. Die Rückabwicklung einer rechtswidrig gewährten Beihilfe ist zweistufig ausgestaltet: Die erste Stufe bildet ein Rückforderungsbeschluss der Kommission. Die zweite Stufe bildet die Rückforderung der Beihilfe durch die Mitgliedstaaten vom Empfänger[111]. Sie richtet sich nach innerstaatlichem Recht, also regelmäßig nach § 48.
b) Auslegung des schutzwürdigen Vertrauens
652
Das Unionsrecht kann sich zunächst auf die Auslegung des schutzwürdigen Vertrauens auswirken. Wegen des typischerweise hohen Betrages von Beihilfen werden diese oftmals von größeren Unternehmen beantragt. Aufgrund der geschäftlichen Erfahrungen dieser Unternehmen ist aber regelmäßig zu erwarten, dass die rechtlichen Anforderungen einer Beihilfengewährung bekannt sind. Daher wird in solchen Fällen häufig zumindest grobe Fahrlässigkeit i.S.d. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr 3vorliegen. Zudem kann in solchen Konstellationen auch der Ausschlussgrund des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr 2vorliegen, welcher kein Verschulden voraussetzt (s.o. Rn 616)[112]. Das Vertrauen ist daher regelmäßig nicht schutzwürdig[113].
c) Auslegung der Rücknahmefrist
653
Nach dem zum innerstaatlichen Recht Gesagten wird die Aufhebungsfrist des § 48 Abs. 4 von der Rechtsprechung (sehr) behördenfreundlich im Sinne einer Entscheidungsfrist ausgelegt (s.o. Rn 628). Bei einer solchen Auslegung verbleiben wenige Fälle, in denen die Frist überschritten ist. Sollte dies bei einer rechtswidrig erlangten Beihilfe gleichwohl einmal der Fall sein, so kann deren Überschreitung nicht entgegengehalten werden. Vielmehr kann trotz Überschreitung aufhobenwerden[114].
d) Steuerung des Rücknahmeermessens
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Schließlich steuert das Unionsrecht auch das Rücknahmeermessen. Grundsätzlich muss über die Rücknahme nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden werden (s.o. Rn 621). Handelt es sich jedoch um einen unionsrechtswidrigenBeihilfebescheid, so reduziert sich das Ermessen auf Null. Es mussalso aufgehoben werden[115]. Fraglich ist, welche Rechtsfolge eintritt, wenn eine Beihilfe wegen Verstoßes gegen die Notifizierungspflicht lediglich formell rechtswidrig ist, jedoch materiell in Einklang mit Art. 107 AEUV steht. Hier sprechen gute Gründe dafür, die Beihilfe lediglich vorläufig zurückzufordern[116].
4. Widerruf nachträglich unionsrechtswidriger Verwaltungsakte
655
Der Widerruf knüpft an einen rechtmäßigen VA an (s.o. Rn 598 f). Ein Spannungsverhältnis zum Unionsrecht kann hier daher nur dann entstehen, wenn ein VA nachträglich rechtswidrigwird. Belebt worden ist diese Diskussion auf Grund einer EuGH-Entscheidung aus dem Jahre 2010. Hier stellte sich die Frage der Auswirkungen eines nachträglich in die Schutzliste nach der FFH-Richtlinie (FFH steht für „Flora-Fauna-Habitat“[117]) aufgenommenen Gebiets auf einen Planfeststellungsbeschluss. Der Gerichtshof hat hier judiziert, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit der Berücksichtigung eines solchen Gebiets nicht schlechthin entgegenstehe[118]. Darin wurde teilweise eine Europäisierung des Widerrufsrechts erblickt[119]. Schließt man sich dem an, so müssten die Widerrufsgründeauf ihre Offenheit hin untersucht werden. In Betracht kommt hier insbes. der Auffangtatbestand des schweren Nachteils nach § 49 Abs. 2 S. 1 Nr 5[120]. Liegt ein Widerrufsgrund vor, so reduziert sich auch hier das Ermessen auf Null. Es muss also aufgehoben werden[121].
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 15 Die behördliche Aufhebung von Verwaltungsakten› IX. Sonderregelungen für das Rechtsbehelfsverfahren
IX. Sonderregelungen für das Rechtsbehelfsverfahren
656
Nach § 50 gelten § 48 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2–4 sowie § 49 Abs. 2–4 und 6 nicht, wenn ein begünstigender VA, der von einem Dritten angefochten worden ist, während des Vorverfahrens, §§ 68 ff VwGO, oder während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird, soweit dadurch dem Widerspruch oder der Klage abgeholfen wird[122]. § 50 modifiziert die §§ 48 und 49 in dem Umfang, den die Norm festlegt. Es geht im Wesentlichen darum, dass bei der Anfechtung begünstigender VAe durch belastete Dritte der Begünstigte sich nicht auf den Vertrauensschutz berufenkann[123].
657
§ 50 äußert sich nicht zu der Frage, wann ein VA mit Drittwirkungvorliegt (dazu Rn 367). Dies ist – ebenso wie im Rahmen des § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO[124] – nach materiellem Recht zu entscheiden. Die „Soweit“-Regelung des § 50 befreit die Behörde von den Schranken der §§ 48, 49 nur insoweit, als dem Widerspruch oder der Klage abgeholfen wird. Eine Aufhebung des VA unter den Voraussetzungen des § 50 kann nicht erfolgen, wenn die Rechte des Dritten, die er mit seinem Rechtsbehelf geltend gemacht hat, nicht betroffen werden.
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