631
§ 49 Abs. 1 erfasst rechtmäßige VAe. Unzweckmäßige Ermessensentscheidungen sind rechtmäßig; rechtmäßig sind auch VAe, deren Verfahrens- oder Formfehler nach § 45 geheilt sind oder mit Unrichtigkeiten iSd § 42 behaftet sind[78]. Die negative Formulierung des § 49 Abs. 1 stellt sicher, dass nicht nur VAe, die den Betroffenen ein Tun, Dulden oder Unterlassen oder eine Geldleistung auferlegen, widerrufen werden können, sondern auch diejenigen VAe, die einen Anspruch ablehnen oder eine negative Feststellung enthalten. Ein nichtbegünstigender VA i.S. dieser Norm ist folglich ein belastender VA.
3. Ausübung des Widerrufs
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Der Widerruf ist gemäß § 49 Abs. 1 in folgenden Fällen gesetzlich ausgeschlossen: Ein belastender VA kann nicht widerrufen werden, wenn ein VA mit gleichem Inhalt erneut erlassen werden müsste. Das ist der Fall bei einer Ermessensreduzierung auf Nulloder bei einer Selbstbindungder Verwaltung. Der Widerruf eines belastenden VA entfällt ferner, wenn der Widerruf aus anderen Gründen unzulässig ist. Die weite Fassung des Gesetzes ermöglicht, Widerrufsverbote gesetzlichen Bestimmungen, dem Sinn und Zweck einer Regelung oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu entnehmen. Auch verwaltungsinterne Maßnahmen wie Verwaltungsvorschriften (s.o. Rn 73 f) oder Weisungen (s.o. Rn 332) können über die Selbstbindung der Verwaltung nach Art. 3 Abs. 1 GG iVm der Verwaltungspraxis einem Widerruf entgegenstehen[79]. Liegt keiner der genannten Ausschlussgründe vor, steht der Widerruf im Ermessen der zuständigen Behörde. Dabei sind die Grenzen des § 40 einzuhalten (s.o. Rn 210 ff). Nur sachgemäße Gründe erlauben daher den Widerruf. Zudem erlangt das Übermaßverbot besondere Bedeutung: Es ist immer zu prüfen, ob weniger einschneidende Mittel an Stelle des Widerrufs ergriffen werden können.
Beispiel:
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist verletzt, wenn der Zweck des Widerrufs nicht erreichbar ist[80].
4. Wirkungen des Widerrufs
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Der Widerruf kann ganz oder teilweiseerfolgen. Insoweit entscheidend ist die Teilbarkeit des VA. Der Widerruf kann nur mit Wirkung für die Zukunftausgeübt werden; ein rückwirkender Widerruf ist also nicht möglich.
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 15 Die behördliche Aufhebung von Verwaltungsakten› VII. Der Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakts
VII. Der Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakts
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Ein rechtmäßiger begünstigender VA kann nach Maßgabe des § 49 Abs. 2 und 3 widerrufen werden[81]. Die Interessenlage unterscheidet sich hier von derjenigen bei der Rücknahme eines rechtswidrigen VA (s.o. Rn 609): Denn anders als dort besteht hier kein Spannungsverhältnis zwischen den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des Vertrauensschutzes. Das Vertrauen auf den Fortbestand des begünstigenden VA wird hier umgekehrt durch dessen Rechtmäßigkeit sogar gestützt[82]. Daher gibt es keine allgemeine Widerrufsmöglichkeit. Vielmehr muss ein besonderer Widerrufsgrundvorliegen. Die einzelnen Widerrufsgründe sind in § 49 Abs. 2 und 3 abschließend aufgelistet[83].
635
§ 49 Abs. 2 und 3 erfasst begünstigende VAe. Auch rechtsgestaltende VAe dürfen widerrufen werden; freilich ist zu prüfen, ob dieser Fall des VA im Einzelfall endgültigen Charakter haben soll[84]. Die Widerrufsmöglichkeit besteht unabhängig davon, ob der VA anfechtbar oder unanfechtbar ist. Trotz der unterschiedlichen Ausgangslage eines rechtmäßigen oder rechtswidrigen VA ist überwiegend anerkannt, dass auch ein rechtswidriger VAbei Vorliegen eines Grundes nach § 49 Abs. 2 oder 3 widerrufen werden kann. Dem liegt ein Erst-recht-Schluss zugrunde: Wenn sogar ein entsprechender rechtmäßiger VA widerrufen werden dürfte, muss dies erst recht für einen rechtswidrigen VA gelten[85]. Allerdings muss (auch) in einer solchen Konstellation ein Widerrufsgrund nach § 49 Abs. 2 bzw. Abs. 3 vorliegen[86]. – Innerhalb des § 49 ist zu unterscheiden zwischen (sonstigen) begünstigenden VAennach Abs. 2 und geldwerten begünstigenden VAenach Abs. 3. § 49 Abs. 3 wurde anstelle des § 44a BHO aF in das VwVfG aufgenommen[87]. Die Abgrenzung zwischen Abs. 2 und 3 entspricht derjenigen im Rahmen des § 48 (s.o. Rn 610 f) und ist von erheblicher Bedeutung: Denn zum einen divergieren die Widerrufsgründe nach Abs. 2 und Abs. 3. Zum anderen kann ein Widerruf nach Abs. 2 nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen (ex nunc), während ein Widerruf nach Abs. 3 auch mit Wirkung für die Vergangenheit vorgenommen werden darf (ex tunc).
3. Widerrufsgründe nach § 49 Abs. 2 VwVfG
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Nach § 49 Abs. 2 Nr 1ist ein Widerruf zulässig, wenn er durch Rechtsvorschrift zugelassenoder im VA vorbehalten ist. Gesetze, die einen Widerruf erlauben, gibt es außerordentlich häufig:
Beispiel:
§ 12 Abs. 2 S. 2 BImSchG: Die Genehmigung „kann mit einem Vorbehalt des Widerrufs erteilt werden, wenn die genehmigungsbedürftige Anlage lediglich Erprobungszwecken dienen soll.“
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Für den im VA vorbehaltenen Widerruf ist entscheidend, ob die Beifügung des Widerrufsvorbehaltsrechtmäßig ist. Das ist insbes. dann nicht der Fall, wenn ein Gesetz die Widerrufsgründe abschließend aufführt oder wenn ein Rechtsanspruch auf den VA ohne Widerrufsvorbehalt bestand[88]. Im Übrigen ist ein Widerrufsvorbehalt als Nebenbestimmungzu einem VA nur unter den in § 36 normierten Anforderungen zulässig (s.o. Rn 429). Insbes. darf ein Widerrufsvorbehalt nicht gleichsam „automatisch“ einem VA hinzugefügt werden, da dies den Vertrauensschutz aushöhlen würde[89]. Enthält der Widerrufsvorbehalt besondere Gründe, so müssen diese erfüllt sein. Wenn solche Gründe im Einzelfall fehlen, müssen besondere Gründe des öffentlichen Interesses vorliegen, die den Widerruf erfordern. In der Begründung des Widerrufsbescheids muss die Behörde diese Gründe darlegen.
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§ 49 Abs. 2 Nr 2erlaubt den Widerruf, wenn mit dem VA eine Auflage verbundenist und der Begünstigte diese nicht oder nicht innerhalb einer ihm gesetzten Frist erfüllt hat. Mit „Auflage“ ist die Nebenbestimmung iSd § 36 Abs. 2 Nr 4 gemeint (s.o. Rn 422). Inhaltliche Beschränkungen des VA fallen nicht unter Nr 2. Ein Verschulden für die Nichterfüllung der Auflage fordert das Gesetz nicht[90]. Bedeutsam ist allein das öffentliche Interesse an der Durchsetzung des mit der Auflage verbundenen Zwecks. Für die Ausübung des Widerrufs verlangt das Gesetz nicht, dass zur Erfüllung der Auflage eine erneute Frist gesetzt und der Widerruf angedroht wird. Die Frist ergibt sich normalerweise aus dem VA oder der Auflage selbst. Liegt eine Ausnahme vor, muss eine Frist gesetzt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann erfordern, dass vor dem Widerruf die Vollstreckung der Auflage versucht werden muss. Das Übermaßverbot steht einem Widerruf ferner entgegen, wenn eine unwesentliche Auflage unerfüllt geblieben ist.
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Nach § 49 Abs. 2 Nr 3ist der Widerruf zulässig, wenn die Behörde auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt war, den VA nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde. Die nachträglich eingetretenen Tatsachenmüssen Veränderungen in den sachlichen Voraussetzungen des VA ergeben; ein nachträgliches Bekanntwerden unverändert gebliebener Umstände genügt für den Widerruf nicht. Entscheidend ist, dass die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen, wären sie bei Erlass des VA bekannt gewesen, die Behörde berechtigt hätten, den VA nicht zu erlassen. Dabei müssen die neuen Tatsachen eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überwinden: In technischen Fragen genügt daher nicht der Hinweis auf eine Einzelmeinung, die sich bislang noch nicht durchgesetzt hat[91]. „Berechtigt“ ist eine weite Formulierung; sie erfasst auch Tatsachen, die für Zweckmäßigkeitserwägungen bedeutsam gewesen wären. Ein Widerruf nach Nr 3 (und nach Nr 4) entfällt freilich, wenn die Bindungswirkung des VA darauf abzielt, vor nachträglichen Änderungen der Sach- und Rechtslage zu schützen.
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