Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 15 Die behördliche Aufhebung von Verwaltungsakten› IV. Die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts
IV. Die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts
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Nach § 48 Abs. 1 S. 1 kann ein rechtswidriger VA, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Norm stellt den Grundsatz auf, dass jeder rechtswidrige VA ohne Vorliegen eines besonderen Rücknahmegrundeszurückgenommen werden darf. Alleine die Rechtswidrigkeit bildet einen grundsätzlichen Rechtfertigungsgrund für die Rücknahme. Dieser Grundsatz – auch Grundsatz der freien Rücknehmbarkeit genannt – basiert auf der Gebundenheit der Verwaltung an Recht und Gesetz, s. Art. 20 Abs. 3 GG. Der Gedanke des Vertrauensschutzes stellt sich bei rechtswidrigen belastenden VAen nicht. Das Gesetz schützt in diesem Fall Vertrauen nicht. Wie sich aus § 48 Abs. 1 S. 2 ergibt, gelten die Beschränkungen der Abs. 2 bis 4 nur für begünstigende VAe (s.u. Rn 609), nicht auch für belastende.
Beispiel:
Die Behörde erlässt eine Abrissverfügung gegen den Hauseigentümer A; A schließt mit einem Abrissunternehmen einen entsprechenden Vertrag ab. Die Abrissverfügung ist rechtswidrig; die Behörde nimmt die Abrissverfügung zurück. A kündigt den Abrissvertrag, ihm entstehen Schadenersatzverpflichtungen. Um diese Schadenersatzverpflichtungen zu vermeiden, ist die Behörde aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes heraus nicht gehalten, von ihrer Rücknahmemöglichkeit keinen Gebrauch zu machen. A hat gegen die Behörde einen Amtshaftungsanspruch (zu Letzterem ausf. § 27).
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Der Grundsatz des § 48 Abs. 1 S. 1 gilt für rechtswidrige belastende VAe. Unerheblich ist, ob der VA unanfechtbar geworden ist oder nicht. Die Rücknahme kann sich auf den vollständigen VA oder auf einzelne Teile des VA beziehen, wenn der VA teilbar ist. Die Rücknahme kann mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit ausgesprochen werden. Auch der nichtige VAist in analoger Anwendung des § 48 Abs. 1 S. 1 als rechtswidriger VA rücknehmbar und mit der Anfechtungsklage angreifbar (s.o. Rn 603)[27]. Insbes. wenn zwischen den Beteiligten streitig ist, ob ein VA nichtig oder rechtswidrig ist, kann die Behörde zum Mittel der Rücknahme nach § 48 Abs. 1 S. 1 greifen. Die materielle Beweislastdafür, ob ein VA rechtswidrig ist, trägt die Behörde[28].
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Die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden VA steht nach § 48 Abs. 1 S. 1 im Ermessender zuständigen Behörde („kann“; zum Ermessen s.o. Rn 206 ff). Allerdings kann sich auch hier das Ermessen auf Null reduzieren. Da die Rechtswidrigkeit des VA bereits Bestandteil des Tatbestands ist, vermag die Rechtswidrigkeit alleine noch keine Ermessensreduzierung zu bewirken[29]. Eine Ermessensreduzierung auf Null tritt vielmehr nur dann ein, wenn die Aufrechterhaltung des VA zu schlechthin unerträglichen Ergebnissen führen würde[30]. Die Rücknehmbarkeit scheidet aus, wenn die Behörde auf ihr Rücknahmerecht verzichtet oder es verwirkthat[31]. Eine Verwirkung ist freilich nur unter besonderen Umständen denkbar[32]. Einer Rücknahme steht die Rechtskraftwirkung entgegen, § 121 VwGO, wenn das Gericht den VA rechtskräftig als rechtmäßig bestätigt hat[33]
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Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 15 Die behördliche Aufhebung von Verwaltungsakten› V. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts
V. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts
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Nach § 48 Abs. 1 S. 2 ist für den rechtswidrigen, aber begünstigenden VA der Grundsatz der freien Rücknehmbarkeit eingeschränkt[34]. Dies ist darauf zurückzuführen, dass – anders als bei rechtswidrigen belastenden VAen – der Vertrauensschutz in einem Spannungsverhältnis zur Aufhebungsteht, das es sachgerecht aufzulösen gilt. Die Rücknahme ist daher nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 48 Abs. 2-4 zulässig. Insoweit sind zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden: der Fall der einmaligen oder laufenden Geldleistungoder teilbaren Sachleistung sowie der Fall eines sonstigenVA.
2. Der Geld- oder Sachleistungen betreffende Verwaltungsakt
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§ 48 Abs. 2 betrifft den rechtswidrigen VA, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist. Für die Geldleistungenist zB an Subventionen (vgl. Fall 19)[35] und an die zahlreichen Fälle der Sozialleistungen im weitesten Sinne zu denken[36]. Erfasst werden alle Geldleistungen dem Grunde und/oder der Höhe nach. Das Tatbestandsmerkmal „Voraussetzung für eine Geldleistung“ erfasst zB den Feststellungsbescheid oder einen anderen Bescheid, der die Grundlage für eine Geldleistung schafft. Der VA muss aber die Geldleistung bzw seine Feststellung als unmittelbaren Regelungsgehalt enthalten; betrifft der Regelungsgehalt nur mittelbar eine Geldleistung oder die Voraussetzung für eine Geldleistung, so richtet sich die Rücknehmbarkeit des VA nach § 48 Abs. 3.
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Sachleistungenbetreffen Sachen als körperliche Gegenstände iSv § 90 BGB. Dienstleistungen erfasst § 48 Abs. 2 nicht. Teilbarkeit der Sachen ist in tatsächlicher oder zeitlicher Hinsicht vorstellbar, zB die Überlassung von Wohnraum. Eine unteilbare Sachleistung erfasst § 48 Abs. 2 nicht; sie kann nach § 48 Abs. 3 zurückgenommen werden.
b) Vertrauensschutz
aa) Elemente des Vertrauensschutzes
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Nach § 48 Abs. 2 S. 1 dürfen die gerade dargelegten VAe nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des VA vertrauthat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdigist. Mit anderen Worten: Subjektiv muss der Betroffene auf den Bestand des VA vertraut und dieses Vertrauen auch betätigt, also „ins Werk gesetzt“ haben[37], objektiv muss das Vertrauen schutzwürdig sein[38]. Im Falle einer Universalsukzession scheidet eine Berufung auf den Vertrauensschutz konsequenterweise aus[39]. Ist das Vertrauen danach schutzwürdig, so steht es einer Aufhebung entgegen („darf nicht zurückgenommen werden“). Der Vertrauensschutz gestaltet sich insoweit zum Bestandsschutzaus[40]. Allerdings kann sich der Vertrauensschutz auf einen Teil des VA beschränken („soweit“). Ist das Vertrauen hingegen nicht schutzwürdig, entfällt die Sperrwirkung, und die Rücknahmeentscheidung erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen unter Beachtung der Frist des § 48 Abs. 4[41].
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In § 48 Abs. 2 S. 2 und 3 werden sodann Konstellationen benannt, in denen das Vertrauen nach Einschätzung des Gesetzgebers schutzwürdig (S. 2) oder nicht schutzwürdig (S. 3) ist. Die dort genannten Regelbeispielesind jedoch nicht abschließend. Allerdings müssen ungenannte Konstellationen eine mit den genannten Konstellationen vergleichbare Schutzwürdigkeit aufweisen[42]. In Prüfungsarbeitenempfiehlt es sich, zunächst auf die Ausschlussgründe nach § 48 Abs. 2 S. 3 einzugehen[43].
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