d) Rechtsfolgen der Rücknahme
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Nimmt die Behörde einen VA, der nicht unter § 48 Abs. 2 fällt, zurück, so hat nach Maßgabe des § 48 Abs. 3 S. 1 der Betroffene einen Anspruch auf Vermögensausgleich. Dieser Anspruch ist ein verwaltungsrechtlicher, vom Verschulden der Behörde unabhängiger Anspruch sui generis; neben ihm können andere Ansprüche, zB der Amtshaftungsanspruch, bestehen (s. dazu § 27). Der Anspruch ist antragsbedingt; für den Antrag besteht keine bestimmte Form.
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Voraussetzung für den Anspruchist, dass der von der Rücknahme des VA Betroffene auf den Bestand des VA vertraut hat und sein Vertrauen schutzwürdig ist, § 48 Abs. 3 S. 1. Hierbei geht es nicht um das Rücknahmeinteresse, sondern um das Interesse, den VA ohne Verpflichtung zum Nachteilsausgleich zurücknehmen zu dürfen[65]. Nach § 48 Abs. 3 S. 2 ist Abs. 2 S. 3 anzuwenden; auf die dazu gemachten Ausführungen ist zu verweisen, s.o. Rn 614 ff[66]. Ein etwaiges Mitverschulden führt nicht zur Anspruchsteilung: Überwiegt die Verantwortung der Behörde, so ist der Anspruch zu gewähren; überwiegt das Mitverschulden, so entfällt er insgesamt[67].
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Der Anspruch ist auf Geldersatzgerichtet; naturgemäß entfällt die Naturalrestitution. Dem Betroffenen ist das Vertrauensinteressezu ersetzen, also der Schaden, der ihm dadurch entstanden ist, dass die Behörde falsch gehandelt hat und der Betroffene in seinen Dispositionen vom Fortbestehen des VA ausgegangen ist. § 48 Abs. 3 S. 3 begrenzt das Vertrauensinteresse durch das dem positiven Interesse des Zivilrechts entsprechende Bestandsinteresse; dieses kann im Einzelfall geringer als das Vertrauensinteresse sein. Sind über das Bestandsinteresse hinausgehende Vermögensdispositionen getroffen worden und sind diese rückgängig zu machen, so können Schäden, die durch die Rückabwicklung entstehen, Ansprüche aus Amtspflichtverletzung begründen.
Beispiel:
A erhält die Erlaubnis, ein Haus zu bauen. Er lässt die Baugrube ausschachten und schließt Verträge mit Handwerkern ab. Die Baugenehmigung wird zurückgenommen. Sämtliche Schäden sind nach § 48 Abs. 3 S. 1 zu ersetzen. Zur Finanzierung des Baus hat A Wertpapiere „flüssig“ gemacht; für den Rückkauf dieser Wertpapiere muss A höhere Beträge aufwenden; dieser Schaden wird vom Bestandsinteresse nicht mehr erfasst, A hat insoweit möglicherweise einen Anspruch wegen Amtspflichtverletzung.
625
Nach § 48 Abs. 3 S. 4 setzt die Behörde den Anspruch dem Grunde und der Höhe nach in einem Festsetzungsbescheidfest. Der Anspruch kann nach § 48 Abs. 3 S. 5 nur innerhalb eines Jahres geltend gemacht werden; die Frist beginnt zu laufen, sobald die Behörde den Betroffenen auf sie hingewiesen hat.
4. Rücknahmefrist und -behörde
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Nach § 48 Abs. 4 S. 1 ist die Rücknahme eines rechtswidrigen VA nur innerhalb eines Jahres möglich; die Frist läuft von dem Zeitpunkt an, ab dem die Behörde von Tatsachen Kenntniserlangt, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen VA rechtfertigen. Aus § 48 Abs. 1 S. 2 ergibt sich, dass die Jahresfrist nur für begünstigende VAe gilt; belastende VAe sind hingegen zeitlich unbeschränkt rücknehmbar. Das Gleiche gilt für VAe, die unter den Voraussetzungen des Abs. 2 S. 3 Nr 1 zustande gekommen sind, s. § 48 Abs. 4 S. 2. Die Bestimmung des § 48 Abs. 4 wird vom BVerwGgrds. behördenfreundlich ausgelegt. Dies gilt insbes. für den Fristbeginn und die zuständige Stelle (s.u. Rn 628 f). Allerdings hat das Gericht jüngst judiziert, dass nach Verstreichen der Aufhebungsfrist die Rücknahme auch dann ausgeschlossen ist, wenn die Behörde nach Fristablauf erneut Ermittlungen aufnimmt oder ihr Ermessen neu ausübt[68].
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Der Wortlaut des § 48 Abs. 4 stellt auf „Tatsachen“ ab. Dies könnte es nahelegen, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Ermittlungsfehlerzu beschränken, in denen also der Sachverhalt unzutreffend ermittelt worden ist. § 48 Abs. 4 dient aber dem Schutz des Bürgers. Dieser soll nach einer bestimmten Zeit auf den Bestand eines VA vertrauen dürfen[69]. Daher hat der Große Senat des BVerwG zu Recht judiziert, dass die Bestimmung auch bei Rechtsanwendungsfehlerneinschlägig ist, bei denen der Sachverhalt zwar zutreffend ermittelt, jedoch unrichtig subsumiert wurde[70].
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§ 48 Abs. 4 enthält keine absolute Ausschlussfrist für die Rücknahme eines rechtswidrigen VA[71]; gemeint ist der Zeitraum zwischen Erlass des VA und der Kenntnisnahme von Tatsachen, die zur Annahme seiner Rechtswidrigkeit führen; ein Zeitraum von 52 Jahren ist aber bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen[72]
. Fraglich ist jedoch der Fristbeginn. Nachdem dies zuvor innerhalb des BVerwGumstritten war, hat der Große Senat des Gerichts im Jahr 1984 die Frist als Entscheidungsfristgedeutet. Diese beginnt im Unterschied zu einer Bearbeitungsfrist erst dann zu laufen, wenn die Behörde vollständige Kenntnis der für die Rücknahmeentscheidung maßgeblichen Tatsachen hat[73]
. Diese Ansicht ist jedoch zu Recht kritisiert worden[74]. Denn der von der Norm bezweckte Schutz des Bürgers wird hier geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass dann der einjährigen Entscheidungsfrist nach § 48 Abs. 4 eine regelmäßig lediglich einmonatige Rechtsbehelfsfrist nach §§ 70, 74 VwGO gegenübersteht. Zudem hätte es die Behörde dann in der Hand, durch Nachermittlungen den Lauf der Frist erneut in Gang zu setzen.
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Umstritten ist auch, bei welcher Stelle die Kenntnis vorliegen muss. Da § 48 Abs. 4 explizit „die Behörde“ nennt, hätte es nahe gelegen, auf die für die Aufhebung zuständige Behörde in ihrer Gesamtheit abzustellen (s.o. Rn 121). Der Große Senat des BVerwG hat sich aber auch an dieser Stelle für eine (sehr) behördenfreundliche Interpretation entschieden: Danach ist auf den nach der internen Geschäftsverteilung zuständigen Amtswalterabzustellen (zum Begriff s.o. Rn 124)[75]. Auch diese Sichtweise ist jedoch auf berechtigte Kritik gestoßen: Denn der interne Informationsfluss liegt in der Verantwortung einer Behörde; dem Bürger können diesbezügliche Reibungsverluste nicht angelastet werden[76].
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 15 Die behördliche Aufhebung von Verwaltungsakten› VI. Der Widerruf eines rechtmäßigen belastenden Verwaltungsakts
VI. Der Widerruf eines rechtmäßigen belastenden Verwaltungsakts
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Nach § 49 Abs. 1 kann ein rechtmäßiger nicht begünstigender VA, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, außer wenn ein VA gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Vertrauensschutzerwägungenkommen hier grundsätzlich nichtzum Tragen[77]. Deshalb bedarf es für den Widerruf eines belastenden VA im Unterschied zum Widerruf eines begünstigenden VA (s.u. Rn 634) keines besonderen Widerrufsgrunds. Im Regelfalle wird der Adressat sogar ein Interesse daran haben, dass die ihn belastende Maßnahme aufgehoben wird.
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