Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 12 Der Verwaltungsakt: Wesensmerkmale und Vorkommen› I. Die Bedeutung des Verwaltungsakts
I. Die Bedeutung des Verwaltungsakts
273
Der Verwaltungsakt (im Folgenden VA) ist die klassische Handlungsform des deutschen Verwaltungsrechtsund das zentrale Steuerungsinstrument der Verwaltung[1]. Er erfasst Einzelmaßnahmen der Verwaltung, die bestimmten gemeinsamen Rechtsregeln unterworfen werden. In ihrer einheitlichen rechtlichen Erfassung liegt eine erste Bedeutung des VA. Diese hervorzuheben ist angezeigt, weil – vom Tatsächlichen aus betrachtet – sehr unterschiedliche Erscheinungsformen von Verwaltungshandlungen denselben Rechtsregeln unterliegen.
Beispiele für VAe:
• |
das Verkehrszeichen, |
• |
die Baugenehmigung, |
• |
die Gewerbeerlaubnis und die Gewerbeuntersagung, |
• |
der Steuerbescheid, |
• |
die Immatrikulation, |
• |
die Verkündung des Ergebnisses der Juristischen Prüfungen, |
• |
die Genehmigung einer Satzung durch die Aufsichtsbehörde, |
• |
die Ernennung zum Beamten. |
274
Der VA wurde von Otto Mayer geprägt. Er übernahm die Figur aus dem französischen Recht unter Berücksichtigung von Vorarbeiten der deutschen Verwaltungsrechtslehredes 19. Jahrhunderts[2]. Der Grund für diese Schöpfung war, dem Bürger Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Verwaltung zu eröffnen. Denn bis zum Inkrafttreten der VwGO im Jahre 1960 musste zur Erlangung von Rechtsschutz ein VA vorliegen. Dieser besaß damit eine rechtswegeröffnende Funktion[3]. Seit dem Inkrafttreten der VwGO (1.4.1960) ist die mit der Qualifizierung einer behördlichen Handlung als VA verbundene Rechtsschutzfunktion jedoch zweitrangig, da § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO den Verwaltungsrechtsweg unabhängig davon eröffnet, ob ein VA oder eine sonstige Amtshandlung vorliegt. Prozessuale Bedeutung hat der VA nur noch für die Bestimmung der statthaften Klageart und damit auch für die Klagefrist sowie die Notwendigkeit eines Vorverfahrens.
275
Die große Relevanz des VA legt die Annahme nahe, dass die einschlägigen Gesetze den Begriff des VAzumindest seit Ausgang des 19. Jahrhunderts verwenden. Dem ist jedoch nicht so: Ältere Gesetze verwenden für die zu treffende Verwaltungsentscheidung spezielle Ausdrücke, zB die Begriffe Verfügung, Erlaubnis, Dispens, Konzession (s. zB § 47 GewO)[4]. Diese Sachentscheidungen sind rechtlich freilich durchweg VAe. Der Begriff VA fand sich erstmalig in den Verwaltungsgerichtsgesetzen, die nach 1945 erlassen wurden. Die Militärratsverordnung Nr 165 von 1948[5] enthielt in § 25 Abs. 1 die erste Legaldefinition des Begriffs. Die heute gültige Definition findet sich in § 35. Sie knüpft an jene an und nimmt die zwischenzeitlich erfolgten wissenschaftlichen Bemühungen um den Begriff in sich auf.
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 12 Der Verwaltungsakt: Wesensmerkmale und Vorkommen› II. Die Funktionen des Verwaltungsakts
II. Die Funktionen des Verwaltungsakts
1. Konkretisierungsfunktion
276
Dem VA kommt zunächst eine Konkretisierungsfunktion zu. Denn Gesetze sind in aller Regel abstrakt-generell formuliert. Sie benötigen eine Umsetzung auf einen konkreten Fall und auf eine individuelle Person. Genau diese zu leisten, ist Aufgabe des VA: Er ist das typische Mittel zur Konkretisierung und Umsetzung von Gesetzenund Individualisierung des abstrakt-generellen Gesetzes.
Beispiel:
Nach § 17 Abs. 1 S. 1 KrWG hat der Abfallbesitzer Abfälle dem Entsorgungspflichtigen zu überlassen (abstrakt-generelle Regelung). Ein Anwohner sammelt Schnapsflaschen. Die Stadt ist entsorgungspflichtige Körperschaft. Nach § 17 Abs. 1 S. 1 KrWG iVm der örtlichen Abfallsatzung kann sie den Flaschensammler auffordern, ihr die Flaschen, die – was hier angenommen werden soll – Abfall sind, in der Weise zu überlassen, dass die Flaschen in das Abfallgefäß gefüllt werden und dieses zum Abholen bereitgestellt wird (konkret-individuelle Regelung, also VA).
277
Die Funktion des VA besteht mithin darin, gesetzliche Regelungen im Einzelfall mit allen daraus folgenden Konsequenzen für den Bürger verbindlich zu machen. Diese Aussage bedeutet nicht, dass alle Gesetze erst dann für den Bürger Wirkung entfalten, wenn der Bürger mit Hilfe eines VA ihren Regelungsgehalt „erfährt“. Alle Verbotsnormen, zB die in Strafgesetzen enthaltenen, gelten unmittelbar; der Bürger darf nicht töten und nicht stehlen. Teilweise gibt es Ähnliches auch im öffentlichen Recht: Durch Verwaltungsrecht verbotenes Handeln ist dem Bürger solange nicht gestattet, bis er eine Erlaubnis in Händen hat, ein an sich verbotenes Handeln vorzunehmen.
Beispiel:
Die Pflicht zur Einhaltung der Regeln der StVO gilt unabhängig von ihrer Konkretisierung und Individualisierung durch die zuständige Behörde.
2. Stabilisierungsfunktion
278
Darüber hinaus weist der VA auch eine Stabilisierungsfunktion auf. Denn die Funktion des VA, die gesetzliche Regelung für den Bürger mit allen daraus folgenden Konsequenzen verbindlich zu machen, tritt bereits dann ein, wenn der VA gegenüber dem Bürger rechtswirksam wird. Das ist im Zeitpunkt der Bekanntgabeder Fall, s. § 43 Abs. 1 (dazu ausf. Rn 435 ff). Den Zeitpunkt der Bekanntgabe bestimmt § 41. Die Rechtswirksamkeit des VA ist unabhängig von der möglichen Rechtswidrigkeit, der VA darf nur nicht nichtig sein, s. § 43 Abs. 3. Die Rechtswirksamkeit gilt solange und soweit, bis der VA „aus der Welt“ ist, s. § 43 Abs. 2. – Die vorherigen Aussagen sind besonders wichtig (und werden deshalb später vertieft), weil sie eine spezifische Lastenverteilung im Verhältnis Bürger-Verwaltung bedingen: Es ist Sache des Bürgers, ihn belastende VAe im dafür vorgesehenen Verfahren auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen (Widerspruchsverfahren, Anfechtungsklage). Unterlässt der Bürger diese Überprüfung und nimmt er den VA hin, so hat er auch im Falle der Rechtswidrigkeit des VA die Folgen zu tragen.
279
Diese Folgen treten endgültig ein, wenn der VA bestandskräftigwird. Bestandskraft tritt bei belastenden VAen (1)nach Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe des VA ein, s. §§ 70 Abs. 1 und 74 VwGO (auch der Widerspruchsbescheid ist ein VA), (2)bei Eintritt der Rechtskraft eines Urteils, das auf eine erfolglose Anfechtungsklage hin ergeht. Ein ausschließlich begünstigender VA ist mangels Beschwer nicht angreifbar und wird deshalb im Zeitpunkt der Bekanntgabe bestandskräftig. Während der VA in der Zeit, in der gegen ihn vorgegangen werden kann, vorläufig rechtswirksam ist, erstarkt der bestandskräftige VA zur endgültigen Rechtswirksamkeit.
280
Die zuvor beschriebenen Wirkungen, die das Gesetz dem VA zuordnet, haben den VA zu einem effektiven Verwaltungsinstrumentwerden lassen. Dieses Instrument ist in der modernen Massenverwaltung unentbehrlich, zB im Steuerrecht. Der VA dient aber auch dem Interesse des Bürgers, da dieser das von ihm Geforderte nach Erlass des VA genau kennt; er kann auf dieser Grundlage seine persönlichen und geschäftlichen Dinge planen (Planungssicherheit durch VA).
281
Neben der zuvor in Rn 276ff dargelegten materiell-rechtlichen Funktion der Konkretisierung und zugleich Stabilisierung kommt dem VA aber auch eine wichtige Funktion im Hinblick auf das Verwaltungsverfahren zu: Nach § 9 bringt der VA ein Verwaltungsverfahreni.S. dieses Gesetzes zum Abschluss. Zugleich kommen damit die Verfahrensanforderungen des VwVfG zur Anwendung. Dies gilt etwa für das Anhörungsrecht nach § 28 (zur Bedeutung des Verwaltungsverfahrens s.o. Rn 170).
Читать дальше