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Darüber hinaus schafft sich der Staat durch den VA einen Vollstreckungstitel, um die gesetzlichen Pflichten der Bürger zwangsweise durchzusetzen. Der VA ist der von der Verwaltung selbst geschaffene Titel für die Verwaltungsvollstreckung, vgl. § 6 Abs. 1 VwVG. Darin liegt gegenüber der herkömmlichen Vollstreckung eine erhebliche Erleichterung: Denn ansonsten muss zur Vollstreckung zunächst eine gerichtliche Entscheidung erlangt werden (dazu ausf. § 16).
Beispiel:
Die Pflicht zur Zahlung von Gebühren für die Abfallbeseitigung ergibt sich aus einer gemeindlichen Satzung. Die Verwaltung setzt entsprechend den Regeln der Satzung die von den Bürgern zu zahlende Höhe der Gebühr in einem Gebührenbescheid fest. Dieser ist ein VA. Wenn der Bürger nicht zahlt, vollstreckt die Verwaltung den Bescheid. Letzteres ist bei Einhaltung bestimmter Voraussetzungen möglich, ohne dass zuvor eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt wird.
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Schließlich kommen dem VA im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz spezifische Funktionen zu. Vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG sowie nach der einfach-gesetzlichen Regelung des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO ist der Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten nicht (mehr) vom Vorliegen eines VA abhängig. Allerdings kommt dem VA die wichtige Funktion der Klageartbestimmungzu: Nach § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO ist bei einem belastenden Verwaltungsakt (zB einer polizeilichen Durchsuchungsanordnung) die Anfechtungsklage statthaft. Und wird umgekehrt ein begünstigender VA begehrt (zB eine Baugenehmigung), so ist eine Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1, 2. Alt. VwGO zu erheben[6]. Mit diesen Klagearten sind zugleich spezifische Sachentscheidungsvoraussetzungen verbunden, nämlich die Durchführung eines Vorverfahrens nach §§ 68 ff VwGO sowie die Einhaltung der Klagefrist nach § 74 VwGO[7].
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 12 Der Verwaltungsakt: Wesensmerkmale und Vorkommen› III. Die Begriffsmerkmale des Verwaltungsakts
III. Die Begriffsmerkmale des Verwaltungsakts
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Den Begriff „Verwaltungsakt“ definiert § 35. Nach dieser Norm ist VA „jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Allgemeinverfügung ist ein VA, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft.“[8] Ersichtlich unterscheidet diese Begriffsbestimmung zwei Arten von VAen. Satz 1 befasst sich mit dem „Normalfall“, Satz 2 behandelt einen „Spezialfall“ des VA: die Allgemeinverfügung. Beiden Fällen ist getrennt nachzugehen.
1. Der Normalfall des Verwaltungsakts, § 35 S. 1 VwVfG
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Die Begriffsbestimmung des § 35 S. 1 enthält insgesamt sechs Elemente. Erst bei Vorliegen bzw Erfülltsein dieser sechs Elemente ist ein Handeln als VA zu qualifizieren. Diese sechs Elemente sind: „Behörde“, „Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme“, „auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts“, „Regelung“, „Einzelfall“ und „unmittelbare Rechtswirkung nach außen“.
286
Wie jedes Element einer Definition haben diese sechs Elemente folgende Funktion: Sie schließen aus dem großen Angebot von tatsächlich existenten Erscheinungsformen diejenigen aus, welche die Merkmale nicht erfüllen. Die Definition hat also auch hier neben der einschließenden Wirkung auch eine ausschließende.
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Die sechs Elemente der Begriffsbestimmung des VA sind ihrerseits nicht eindeutig, sondern müssen selbst inhaltlich festgelegt werden. Dieses darf nicht überraschen, im Gegenteil: Dass über den Inhalt einzelner Elemente eines Tatbestands Kontroversen bestehen, macht einen wesentlichen Teil der Jurisprudenz aus – über den Inhalt von Tatbestandselementen streitet man auf allen Gebieten des Rechts.
Die Darstellung der einzelnen Elemente des § 35 S. 1 folgt diesem Grundschema:
• |
Funktion, |
• |
Definition, |
• |
Probleme der Definition, |
• |
von der Definition erfasste Sachverhalte, |
• |
durch die Definition ausgeschlossene Sachverhalte. |
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Dieses Begriffsmerkmal hat die Funktion, den Erzeugereiner „hoheitlichen Maßnahme“ festzulegen, die als VA zu qualifizieren sein kann. Nur eine behördliche Maßnahme kann ein VA sein.
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Den Begriff der „Behörde“ legt § 1 Abs. 4 fest. „Behörde (iSd VwVfG) ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.“ Damit nimmt die Vorschrift Bezug auf den funktionellen Behördenbegriff(s.o. Rn 122). Entscheidend ist also – anders als beim organisationsrechtlichen Behördenbegriff – nicht die Eingliederung in die Organisation eines Verwaltungsträgers, sondern die Funktion im Einzelfall. Allerdings besteht ein hoher Überschneidungsgrad. Denn Behörden im organisationsrechtlichen Sinne sind oftmals auch Behörden im funktionellen Sinne, da sie regelmäßig Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen.
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Behörden sind demnach alle Bundes-, Landes- oder Kommunalbehörden, auch Organe der Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts. Auf die Bezeichnung als Behörde kommt es nicht an. Ferner ist mit der Führung des Begriffs nicht automatisch verbunden, dass es sich um eine Behörde iSd VwVfG handelt.
Beispiele:
Militärische Kommandobehörden sind keine Behörden iSd VwVfG, da sie lediglich ein Element militärischer Befehlsstruktur darstellen[9]. Die Bundesagentur für Arbeit ist hingegen eine Behörde, obwohl sie nicht als solche bezeichnet wird[10].
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Da § 1 Abs. 4 an den funktionellen Behördenbegriff anknüpft, können auch sog. Beliehenewie die Sachverständigen des Technischen Überwachungsvereins (TÜV) in die Rolle einer Behörde nach § 1 Abs. 4 einrücken. Umgekehrt ist es möglich, dass eine Behörde im organisationsrechtlichen Sinne keine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt (s.o. Rn 121).
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Behörde im hier relevanten Sinne sind auch Verfassungsorgane, soweit sie Verwaltungsaufgaben erfüllen. Der Bundespräsident als Leiter der Behörde Bundespräsidialamt handelt daher als Behörde, ebenso die Bundesminister in ihrer Eigenschaft als Leiter der Behörde Ministerium. Behörden sind ferner die Chefs der Kammern der sog. verkammerten freien Berufe, zB Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Architekten.
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Beim Erlass des VwVfG im Jahre 1976 hatte der Gesetzgeber naturgemäß solche Maßnahmen im Blick, die überwiegend oder gar ausschließlich von Amtswaltern verantwortet werden und damit von personalen Entscheidungselementen geprägt sind (zum Begriff des Amtswalters s.o. Rn 124). Im Zuge des stetigen technischen Fortschritts hat der Gesetzgeber zunächst teilautomatisierte VAe anerkannt. Wegen der zunehmenden Verbreitung in der modernen Massenverwaltung, insbes. im Bereich des Steuerrechts, ist zudem im Jahre 2017 in § 35ader vollautomatisierte VA in das VwVfG aufgenommen worden[11]. Damit wird anerkannt, dass auch überwiegend oder gar vollständig von automatischen Einrichtungen erlasseneMaßnahmen als VAe i.S.d. VwVfG anzuerkennen sind. Dies impliziert die Gleichstellung der automatischen Einrichtungen nach § 35a mit Behörden i.S.d. § 35 S. 1 (zum teil- und vollautomatisierten VA ausf. Rn 411f)[12].
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