294
Keine Behörde sind Verfassungsorgane, soweit sie nicht Verwaltungsaufgaben wahrnehmen; Maßnahmen der Gesetzgebung, der Regierung oder der Rechtsprechung sind deshalb niemals VA. Privatpersonensind grds. keine Behörde, es sei denn, sie sind Beliehene. Behörde sind auch nicht Stellen der öffentlichen Verwaltung, die unselbstständig sind und nach außen nicht in Erscheinung treten, zB Referate in Ministerien, Dezernate in nachgeordneten Behörden, Dienststellen, Projektgruppen oder Arbeitsgemeinschaften.
b) Hoheitliche Maßnahme
aa) Funktion
295
Weiterhin muss eine „Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme“ vorliegen. Damit handelt es sich bei der „hoheitlichen Maßnahme“ um den Oberbegriff. Beide Einzelelemente, also „hoheitlich“ und „Maßnahme“ werden im Anschluss an die juristische Tradition gemeinsam behandelt[13]. Allerdings kann ihnen durchaus eine jeweils eigenständige Funktion zuerkannt werden. Denn der Begriff der Maßnahme impliziert einen gewissen Erklärungsgehalt[14]. Und das Adjektiv „hoheitlich“ bringt das Erfordernis der Einseitigkeitzum Ausdruck[15].
296
Maßnahme als „Tun“ setzt sich aus zwei Komponentenzusammen: aus der Willensbildung (Entscheidungsfindung) und der Willensäußerung (Entscheidungsäußerung). „Hoheitliche Maßnahme“ ist nach alldem als eine vom Willen eines potenziell Betroffenen unabhängige, einseitige Willensäußerungzu verstehen, der eine Willensbildungvorangegangen sein muss. Die Gleichstellung des vollautomatisierten VA mit dem herkömmlichen VA in § 35a (s.o. Rn 293) hat auch zur Folge, dass von automatischen Einrichtungen veranlasste Maßnahmen der Verwaltung zuzurechnen sind[16].
297
Der Zusatz „hoheitlich“beinhaltet das Merkmal der Einseitigkeitder Maßnahme durch die Behörde im Gegensatz zur vertraglichen Regelung[17]. „Hoheitlich“ erlaubt ein einseitiges Gebrauchmachen von der Befugnis zur Ausübung öffentlicher Gewalt. „Hoheitlich“ betont damit zugleich die Unabhängigkeit behördlichen Handelns vom Einverständnis des Betroffenen. Das Erfordernis der Einseitigkeit ist damit eigenständig gegenüber dem weiteren Merkmal „auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts“ (dazu Rn 303 ff)[18].
298
Entsprechend der für das gesamte Recht geltenden Lehre von den Willenserklärungen liegt eine hoheitliche Maßnahme dann vor, wenn eine Behörde mit Erklärungsgehalt handelt und ihr dieses Handeln zugerechnet werden kann[19].
Beispiel:
Die in einem behördlichen Bescheid enthaltene Äußerung: „Der Bau des im Antrag vom 1.7.2019 beschriebenen Vorhabens wird erlaubt“ bringt zum Ausdruck, dass die Behörde dem Antragsteller das Recht „verleiht“, ein bestimmtes Bauvorhaben zu verwirklichen; das Recht, eine Baugenehmigung zu erteilen, räumen die Landesbauordnungen den Bauaufsichtsbehörden ein.
299
Bei schlicht-hoheitlichen Maßnahmenist regelmäßig (auch) die Regelungswirkung zu verneinen (s.u. Rn 314)[20]. Allerdings kann bei ihnen bereits der Erklärungsgehalt fehlen, so dass keine „Maßnahme“ vorliegt. Dies gilt etwa für die von einem staatlichen Kraftwerk ausgehenden Emissionen: Diese mögen dem betreffenden Verwaltungsträger zuzurechnen sein; eine „Willensbildung“ ist damit jedoch nicht verbunden. Das Erfordernis der Willensbildung hat auch zur Folge, dass ein positives Tun vorliegen muss. Schlichte Unterlassungensind daher keine Maßnahmen. An der Komponente „Willensäußerung“ fehlt es schließlich, wenn zwar eine Willensbildung stattgefunden hat, dieser Wille aber nicht „nach außen“ dringt. Ein Schweigenstellt deshalb grundsätzlich keine Willenserklärung dar. Liegt behördliches Schweigen vor, so sind an dieses Schweigen Rechtsfolgen grundsätzlich nicht zu knüpfen[21]. Insbes. liegt im Schweigen kein Verzicht der Behörde auf Vornahme einer Amtshandlung. Voraussetzung für einen wirksamen Verzicht ist vielmehr, dass die Behörde überhaupt die Durchsetzung eines Rechts unterlassen darf, ferner, dass der Verzicht ausdrücklich oder zumindest konkludent erfolgt.
300
Ausnahmen sind denkbar bei besonderer gesetzlicher Ausgestaltung der Rechtsfolgen, zB formlose Annahme der Lohnsummensteuererklärung[22]. Ausnahmen gelten zudem bei sog. fiktiven Verwaltungsakten. Bei ihnen wird trotz fehlender aktiver Handlung der Behörde ein VA fingiert (s.u. Rn 406 ff). Vom behördlichen Schweigen zu unterscheiden sind zudem konkludente Willensäußerungen. In diesen Fällen geschieht die Willensäußerung durch ein die mündliche oder schriftliche Aussage ersetzendes Verhalten. Aus dem Verhalten ist der Inhalt der Willensäußerung zu erschließen. Konkludente Willensäußerungen anzunehmen, ist jedoch ausgeschlossen, wenn für die Äußerung gesetzlich eine bestimmte Form (Schriftform, notarielle Beurkundung) vorgeschrieben ist.
Beispiel:
Das in einer Handbewegung eines Polizisten zum Ausdruck gelangende Gebot, einen Parkplatz zu verlassen oder an einer Unfallstelle zügig vorbeizufahren. Dieses Gebot bedarf keiner bestimmten Form (vgl. § 37 Abs. 2).
301
Bei der Duldungeines rechtswidrigen Zustandes durch eine Behörde ist zu unterscheiden: Beschränkt sich die Duldung auf die passive Hinnahme des Zustands, so kommt ihr kein Erklärungswert zu. In diesen Fällen ist die Duldung ebenso wie das Schweigen nicht als VA einzuordnen. Anders verhält es sich hingegen bei einer aktiven, unmissverständlichen Duldungserklärung.
Beispiel[23]:
Die Behörde erklärt schriftlich, dass sie die Umnutzung landwirtschaftlicher Gebäude zu einer Gewerbefläche für einen Garten- und Landschaftsbaubetrieb dulde.
ee) Sonderfall der Aufrechnung
302
Auch bei der Aufrechnungserklärung handelt es sich nicht um einen VA. Über dieses Ergebnis besteht Einigkeit, jedoch divergieren die Begründungen. Die Rechtsprechung spricht ihr den hoheitlichen Charakter ab, da es sich um ein Gestaltungsmittel des allgemeinen Schuldrechts handele[24]. Dies setzt allerdings voraus, dass die Zuordnung zum öffentlichen Recht bereits im Rahmen der Hoheitlichkeit abzuarbeiten ist[25]. Sieht man jedoch mit der hier vertretenen Ansicht das Wesen der Hoheitlichkeit in der Einseitigkeit (s.o. Rn 297), so ist diese nicht zu leugnen. Im Schrifttum wird häufig der Regelungsgehalt verneint, da es an der anordnenden Wirkung fehle[26]. Allerdings geht die Aufrechnung in ihrer Wirkungsweise sogar über eine Anordnung hinaus, da sie rechtsgestaltende Wirkung entfaltet. Daher sprechen gute Gründe dafür, bei der Aufrechnung letztlich die Zurechnung zum öffentlichen Recht zu verneinen.
c) Auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts
aa) Funktion
303
Dieses Begriffsmerkmal hat die Funktion, das Rechtsgebietfestzulegen, welches Maßnahmen erlaubt, die als VAe zu qualifizieren sein könnten. Nur Maßnahmen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts können VAe sein.
304
Der Begriff „öffentliches Recht“ und insbes. seine Abgrenzung zum Privatrechtwurden bereits in Rn 29 ffbehandelt. Zum öffentlichen Recht, wie es dort abgegrenzt wurde, zählen das Völkerrecht, das Europarecht, das Staatsrecht und das Verwaltungsrecht. Es könnte deshalb geschlossen werden, alle Rechtsakte, die dieses Recht konkret-individuell „umsetzen“, seien VAe. Dieser Schluss wäre unrichtig. Vielmehr ergibt sich bereits aus dem Anwendungsbereich des VwVfG, dass ausschließlich Maßnahmen auf dem Gebiet des Verwaltungsrechtserfasst werden (s.o. Rn 103und vgl. § 1 Abs. 1).
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