4. Differenzierung nach den am Rechtsverhältnis Beteiligten
258
Die zuvor dargestellten Verwaltungsrechtsverhältnisse waren „bipolar“. Von ihnen sind zu trennen die sog. multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnisse. BipolareVerwaltungsrechtsverhältnisse kennzeichnet ein Gegensatz zwischen Staat und Bürger. Multipolare Verwaltungsrechtsverhältnisse sind dadurch charakterisiert, dass sowohl auf der Seite der Behörde als auch auf der Seite der Bürger unterschiedlichste Interessen eine Rolle spielen. Ein typisches Beispiel für ein multipolaresVerwaltungsrechtsverhältnis bildet das Planfeststellungsverfahren (s.o. Rn 177). Es ist gesetzlich vorgeschrieben, wenn verschiedenste Interessen zu einem optimalen Ausgleich gebracht werden müssen.
Beispiel:
Nach § 35 Abs. 2 S. 1 KrWG ist für die Errichtung und den Betrieb einer Deponie die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens vorgeschrieben. Mit Blick auf die Errichtung einer Deponie lassen sich regelmäßig folgende unterschiedliche Interessen feststellen: das Interesse des Staats an der Entsorgung von Abfällen; das Interesse abfallerzeugender Unternehmen an einer möglichst nahen und deshalb kostengünstigen Entsorgung von Abfällen; das Interesse von Bürgern, von der Errichtung einer Abfallentsorgungsanlage verschont zu werden, weil ihr Betrieb mit Unannehmlichkeiten verbunden ist.
Teil II Grundbausteine des Verwaltungsrechts› § 10 Das Verwaltungsrechtsverhältnis› V. Das „besondere Gewaltverhältnis“
V. Das „besondere Gewaltverhältnis“
259
Die Rechtsfigur „besonderes Gewaltverhältnis“ (andere Bezeichnungen: Sonderstatusverhältnis, öffentlich-rechtliche Sonderbindung, verwaltungsrechtliches Sonderverhältnis) ist Ende des 19. Jahrhunderts entwickeltworden. Dem Begriff wurde eine Reihe von Rechtsbeziehungen zugeordnet, die dadurch gekennzeichnet waren, dass sich Bürger in einer besonderen Nähe zum Staat befanden. Diese besondere Nähe konnte freiwillig oder zwangsweise begründet worden sein. Das besondere Gewaltverhältnis betraf insbesondere die Beziehung von Schülern zur Schule, den Strafvollzug, das Beamtenverhältnis und das Wehrdienstverhältnis. Die spezielle Rechtsbeziehung, welche das besondere Gewaltverhältnis ausmachte, bestand darin, dass dem Bürger der Rechtsschutz gegen Handeln des Staats fehlte. Ferner galten die Grundrechte im besonderen Gewaltverhältnis nicht, so dass die Exekutive auch ohne förmliches Gesetz in die Rechtssphäre des Bürgers eingreifen konnte. Nach damaliger Auffassung, die sich trotz wachsender Kritik bis 1972 halten konnte, reichten Verwaltungsvorschriften als Rechtsgrundlage für einen solchen Eingriff aus.
260
In der Strafgefangenen-Entscheidung[12]
hat das BVerfG die Geltung der Grundrechte im besonderen Gewaltverhältnis bejaht und den Vorbehalt des Gesetzes betont (s.o. Rn 184). Allerdings hat es eingeräumt, dass angesichts der speziellen Sachstrukturen dieser Rechtsbeziehungen (möglichst eng begrenzte) Generalklauseln zulässig sind. Im Anschluss an diese Entscheidung hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Grundrechte und der Gesetzesvorbehalt auch in diesen besonderen Gewaltverhältnissen gelten. Die Figur ist daher als eigenständige Kategorie funktionslos geworden[13]. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass diese besonderen Gewaltverhältnisse durchaus gewisse Eigenarten aufweisen[14]. Dies gilt etwa für ein Kopftuchverbot für Referendarinnen im juristischen Vorbereitungsdienst[15].
[1]
Schenke , VwProzR, Rn 378. Eingehend Hase , Die Verwaltung 2005, 453 ff.
[2]
Maurer/Waldhoff , § 8 Rn 18.
[3]
Hierzu Schenke , VwProzR, Rn 378 ff.
[4]
Dogmatisierung bei Gröschner , Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992, S. 111–113, 141, 150 f.
[5]
Nicht ausreichend ist hierfür ein bloßer sozialer Kontakt, OVG Hamburg, NVwZ-RR 2018, 886, 887.
[6]
Instruktiv Barczak , VerwArch 2018, 363, 375 ff.
[7]
Maurer/Waldhoff , § 8 Rn 23.
[8]
Zu dieser Einordnung Bonk/Neumann/Siegel , in: S/B/S, § 54 Rn 24 und Rn 40.
[9]
Hierzu auch Barczak , VerwArch 2018, 363, 390 ff.
[10]
Hierzu vert. Barczak , VerwArch 2018, 363, 376 ff.
[11]
Hierzu etwa Bonk/Neumann/Siegel , in: S/B/S, § 54 Rn. 45 f. Näheres unter Rn 819 ff.
[12]
BVerfGE 33, 1 ff.
[13]
OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 5.9.2018 – OVG 4 B 4/17, Rn 29 (Pflicht eines Polizisten zum Tragen von Namensschildern); VGH München, Beschl. v. 13.9.2018 – 4 ZB 17/1387, Rn 13 (Ausschluss vom Feuerwehrdienst) – beide juris. Aus dem Schrifttum statt vieler Mann , in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 12 Rn 113 m.w.N.
[14]
Erbguth/Guckelberger , § 10 Rn 5 a.E.; Maurer/Waldhoff , § 8 Rn 32.
[15]
BVerfG, NVwZ 2017, 1128 ff.
Teil III Handlungsformen der Verwaltung
Inhaltsverzeichnis
§ 11 Übersicht über die Handlungsformen der Verwaltung
§ 12 Der Verwaltungsakt: Wesensmerkmale und Vorkommen
§ 13 Der Verwaltungsakt: Rechtmäßigkeitsanforderungen
§ 14 Der fehlerhafte Verwaltungsakt
§ 15 Die behördliche Aufhebung von Verwaltungsakten
§ 16 Die Vollstreckung von Verwaltungsakten
§ 17 Der öffentlich-rechtliche Vertrag
§ 18 Sonstige verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse
§ 19 Schlichtes Verwaltungshandeln
§ 20 Rechtsverordnungen
§ 21 Satzungen
§ 22 Verwaltungsvorschriften
§ 23 Privatrechtliches Handeln der Verwaltung
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 11 Übersicht über die Handlungsformen der Verwaltung
§ 11 Übersicht über die Handlungsformen der Verwaltung
Inhaltsverzeichnis
I. Bedeutung
II. Unterteilungen
261
Fall 6:
Die Behörde X erlässt an A gerichtet folgenden „Bescheid“: „Bis zur endgültigen Klärung der Sachlage gewähren wir Ihnen vorläufig eine Unterstützung von € 1000 pro Monat.“ Darf die Behörde einen vorläufigen VA erlassen? Rn 270
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 11 Übersicht über die Handlungsformen der Verwaltung› I. Bedeutung
262
Die Sachaufgaben sind der Verwaltung durch das Besondere Verwaltungsrecht vorgegeben, also zB die Schaffung von öffentlicher Sicherheit durch die Landespolizeigesetze; die Entsorgung von Abfällen, § 15 Abs. 1 S. 1 KrWG. Mit Hilfe welcher Instrumenteoder – anders formuliert – mit Hilfe welcher Handlungsformen die Aufgabenerfüllung zu geschehen hat, schreiben die Gesetze selten vor, sondern sie gehen von der Existenz bestimmter Handlungsformen aus. In Ausnahmefällen erklären sie freilich ein spezielles Instrument aus dem Bündel der Handlungsformen für zulässig: Nach § 10 Abs. 1 BauGB ergeht der Bebauungsplan als Satzung; nach § 28 Abs. 2 BauGB wird das Vorkaufsrecht der Gemeinde, welches der Gemeinde beim Kauf von Grundstücken zusteht – s. §§ 24, 25 BauGB –, durch VA gegenüber dem Käufer ausgeübt.
263
Die Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung sind – soweit es die öffentlich-rechtlichen Handlungsformen anbelangt – teilweise im Grundgesetz, teilweise im VwVfG, teilweise überhaupt nicht positiv-rechtlich geregelt. Im Grundgesetz, in Art. 80 GG, hat die Rechtsverordnung ihren Regelungsort gefunden. In den §§ 35 ff ist der Verwaltungsakt, in den §§ 54 ff ist der öffentlich-rechtliche Vertrag normiert. Die Satzung hat etwa in § 10 BauGB eine Regelung für Bebauungspläne erfahren; zudem kommen bei ihr die Bestimmungen der Gemeindeordnungen zum Erlass kommunaler Satzungen zur Anwendung. Positiv-rechtlich ungeregelt bleibt in weiten Bereichen das schlichte Verwaltungshandeln, zu dem insbes. Realakte gehören. Die Zulässigkeit sonstiger einseitiger öffentlich-rechtlicher Willenserklärungen (zB die Anfechtung oder die Aufrechnung) ergibt sich aus der analogen Anwendung des BGB.
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