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Dieses der innerstaatlichen Rechtsordnung zugrundeliegende Prinzip der Verletztenklage steht auch in Einklang mit dem Recht der Europäischen Union. Allerdings liegt den Rechtsordnungen vieler anderer Staaten das Prinzip der Interessentenklage zugrunde. Danach reicht für die Zulässigkeit einer Klage die Geltendmachung eines – im Vergleich zum subjektiven Recht weiter gefassten – berechtigten Interesses aus. Anders als von vielen zuvor erwartet, hat der EuGH in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 2015 aber das deutsche Prinzip der Verletztenklage im Grundsatz als unionsrechtskonform erachtet[6].
Teil II Grundbausteine des Verwaltungsrechts› § 9 Das subjektive öffentliche Recht› II. Begriff
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Ein subjektives öffentliches Recht ist nach herkömmlichem Verständnis die einem Subjekt durch eine Rechtsnorm zuerkannte Rechtsmacht, von einem anderen ein bestimmtes Tun, Dulden oder Unterlassen verlangen zu können[7]. Subjektive Rechte gibt es sowohl im Privatrecht als auch im öffentlichen Recht. Ein subjektives öffentliches Recht ist vorhanden, wenn öffentliches Recht diese Rechtsmacht einräumt[8]. Im Regelfall handelt es sich um subjektive Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Subjektive öffentliche Rechte gibt es darüber hinaus auch im Verhältnis des Staats zum Bürger sowie im Verhältnis von juristischen Personen des öffentlichen Rechts zueinander[9].
Beispiele:
Durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag (dazu ausf. in § 17) wird der Verwaltung ein Zahlungsanspruch gegen einen Bürger eingeräumt. Dieser Anspruch ist ein gerichtlich durchsetzbares subjektives öffentliches Recht – Nach Art. 85 GG gibt es die Bundesauftragsverwaltung; nach Art. 85 Abs. 3 GG unterstehen die Landesbehörden den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden; die Landesbehörden haben die Weisungen der obersten Bundesbehörden zu erfüllen; es existiert folglich ein subjektives öffentliches Recht im Verhältnis Bund-Land.
Teil II Grundbausteine des Verwaltungsrechts› § 9 Das subjektive öffentliche Recht› III. Voraussetzungen
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Eine notwendige Voraussetzung für ein subjektives Recht ist zunächst eine objektive Verpflichtung[10]. Diese Pflicht muss aber keine strikte sein; ausreichend ist auch die Pflicht zur ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens (s.o. Rn 210). Allerdings muss nach dem eingangs Gesagten zwischen der objektiven Rechtsordnung und der Einräumung subjektiver Rechte unterschieden werden (s.o. Rn 234). Die entscheidende Frage ist daher, ob mit der objektiven Pflicht auch ein subjektives Recht korrespondiert.
239
Im Privatrecht steht in der Regel der Rechtspflicht des einen Bürgers ein Rechtsanspruch eines anderen Bürgers gegenüber. Dieses Korrespondenzverhältnis folgt aus der Aufgabe des Privatrechts. Sie besteht darin, die verschiedenen Interessen der Bürger auszugleichen und gegeneinander abzugrenzen. Die für das Privatrecht getroffene Aussage lässt sich nicht ohne weiteres auf das öffentliche Recht übertragen. Denn die öffentliche Verwaltung wird im öffentlichen Interesse tätig. Dies ist zugleich der Ausgangspunkt für die Bestimmung des subjektiven öffentlichen Rechts. Es ist im Einzelfall vorhanden, wenn eine Rechtsvorschrift nicht nur dem öffentlichen Interesse, sondern nach der herrschenden Schutznormtheorieauch dem Interesse der Bürger zu dienen bestimmtist. Eine lediglich faktische Begünstigung alleine reicht also nicht aus. Hinzukommen muss eine normative Begünstigungsabsicht.
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Um ein subjektives öffentliches Recht bejahen zu können, ist also eine zweistufige Prüfungund eine positive Antwort auf die beiden folgenden Fragen notwendig:
• |
Existiert eine gesetzlich bestimmte Rechtspflicht der Verwaltung? |
• |
Dient der Rechtssatz zumindest auch dem Schutz der Interessen des Einzelnen derart, dass dieser die Einhaltung des Rechtssatzes verlangen kann[11]? |
Teil II Grundbausteine des Verwaltungsrechts› § 9 Das subjektive öffentliche Recht› IV. Feststellung im Einzelfall
IV. Feststellung im Einzelfall
1. Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte
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Subjektive Rechte sind zunächst die bereits aus dem Staatsrecht bekannten Grundrechte und grundrechtsgleichen Positionen. Deren Einordnung als subjektive Rechte ist zwar unzweifelhaft. Allerdings müssen die genaue sachliche Reichweite der einzelnen Grundrechte (etwa die Leistungsdimension) sowie der persönliche Anwendungsbereich (etwa die Erstreckung auf juristische Personen) ermittelt werden[12]. Auf der Ebene des Verwaltungsrechts ist jedoch zu beachten, dass die Grundrechte oftmals einfach-gesetzlich ausgestaltet wordensind. Dies gilt insbesondere für die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG[13]. Deshalb darf etwa im öffentlichen Baurecht grundsätzlich nicht auf die ebenfalls in Art. 14 GG verankerte Baufreiheit zurückgegriffen werden[14].
Beispiel:
Auf die grundrechtlich verankerte Baufreiheit kann sich neben dem Eigentümer eines zu bebauenden Grundstücks auch ein Nachbar berufen, der vom Bauvorhaben unzumutbare Einwirkungen auf sein eigenes Grundstück befürchtet. Die nachbarschützenden Bestimmungen des öffentlichen Baurechts sind jedoch in den einfachgesetzlichen Bestimmungen und der hierzu ergangenen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte konkretisiert worden. Daher bedarf es keines Rückgriffs (mehr) auf Art. 14 GG[15].
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Allerdings werden die Grundrechte nicht in allen Bereichen und durchgehend durch einfach-gesetzliche Vorschriften konkretisiert. Dies gilt insbes. für das Polizei- und Ordnungsrecht. Möchte jemand eine gegen ihn gerichtete Maßnahme (etwa eine Identitätskontrolle) durch die Verwaltungsgerichte überprüfen lassen, so kann er sich jedenfalls auf die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG berufen, sofern kein spezielleres Grundrecht einschlägig ist[16].
2. Normen des einfachen und administrativen Rechts
243
Die Beantwortung der Frage, ob ein subjektives öffentliches Recht vorhanden ist, gestaltet sich einfach, wenn die Norm selbst zum Ausdruck bringt, dass sie ein Recht der Bürger enthält. Subjektive öffentliche Rechte finden sich zB im Sozialgesetzbuch.
Beispiel:
Nach § 4 Abs. 2 SGB-I (Sa. Ergänzungsband Nr 401) hat derjenige, der in der Sozialversicherung versichert ist, im Rahmen der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung einschließlich der Altershilfe für Landwirte ein Recht auf 1. die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit und 2. wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit, Mutterschaft, Minderung der Erwerbsfähigkeit und Alter.
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Umgekehrt kann in einer Norm aber auch explizit zum Ausdruck kommen, dass kein subjektives öffentliches Rechtbesteht.
Beispiel:
Nach § 1 Abs. 3 S. 1 BauGB haben die Gemeinden Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Mit dieser objektiven Pflicht korrespondiert jedoch kein subjektives Recht. Denn nach der ausdrücklichen Regelung des S. 2 der Bestimmung besteht kein Anspruch auf Aufstellung der Bauleitpläne, und ein solcher kann auch nicht durch Vertrag begründet werden[17].
245
Schwieriger ist es, im Wege der Interpretationfestzustellen, ob eine Norm ein subjektives öffentliches Recht enthält. Insbes. die Reichweite der nachbarschützenden Bestimmungen im öffentlichen Baurecht ist in einer langen Rechtsprechungslinie fortentwickelt worden. Sie werden im Rahmen der Vorlesungen zum Besonderen Verwaltungsrecht behandelt und sollen daher in dieser Stelle nicht vertieft werden[18].
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