6. Sollvorschriften und intendiertes Ermessen
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Die „Sollvorschrift“steht zwischen der „Mussvorschrift“ auf der einen Seite und der „Kannvorschrift“ auf der anderen Seite. „Sollvorschriften“ sind in der Weise zu verstehen, dass die Behörde bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen zum Handeln verpflichtet ist, aber in Ausnahmefällen von einem Einschreiten absehen kann ( Beispiel:§ 20 Abs. 2 BImSchG, s.o. Rn 208). „Sollvorschriften“ sind die schwächste Form der Einräumung von Ermessen. Praktisch fungieren sie als Beweislastumkehrung. Wenn die Behörde nicht einschreitet, muss sie ihre Berechtigung zum Nichteinschreiten beweisen, indem sie darlegt, dass es sich um einen atypischen Fall handelte[63].
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Das BVerwG[64] hat darüber hinaus die Figur des „intendierten Ermessens“entwickelt[65]. Hiervon sei auszugehen, wenn das Ergebnis der Ermessensbetätigung durch das Gesetz vorgegeben sei und nur ausnahmsweise von dem vorgegebenen Ergebnis abgesehen werden dürfe[66]. Teilweise wird auch bei repressiven Verfügungen nach dem Bauordnungsrecht ein intendiertes Ermessen angenommen[67]. Das Schrifttum steht der Figur des intendierten Ermessens jedoch überwiegend skeptisch gegenüber[68]. Zu Recht wird dagegen angeführt, dass die Behörde zumindest von der Pflicht nach § 39 Abs. 1 S. 3, ihre Ermessenserwägungen zu begründen, nicht völlig befreit werden kann[69]. Um zugleich die Grenzen zwischen „Kann-„ und „Soll“-Vorschriften nicht zu nivellieren, kann ein solches ungeschriebenes intendiertes Ermessen lediglich in besonderen Ausnahmekonstellationen anerkannt werden[70].
7. Besondere Ermessensarten
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Auch der Erlass materieller Gesetze (also von Satzungen und Rechtsverordnungen; s.o. Rn 68ff), steht regelmäßig im Ermessen der Verwaltung. Da hier abstrakt-generelle Regelungen geschaffen werden, ist der Ermessensspielraumtypischerweise größerals bei der Ermessensausübung im Einzelfall. Dieses normative Ermessen wird deshalb von der Rechtsprechung nur auf zurückgezogener Linie daraufhin überprüft, ob die Ermessensausübung zu schlechterdings unvertretbaren oder unverhältnismäßigen Ergebnissen geführt hat[71].
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Ebenfalls ein größerer Ermessenspielraum als bei der Ermessensausübung im Einzelfall besteht beim sog. Planungsermessen[72]. Einschlägig ist es bei planenden Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung (s.o. Rn 22). Hierzu zählt im Rahmen der klassischen Examensfächer insbesondere die Bauleitplanung nach §§ 1 ff BauGB. Die Aufstellung von Plänen ist typischerweise mit einer planerischen Gestaltungsfreiheitverbunden, die auch als Abwägungsfreiheit bezeichnet wird.
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Diese Abwägungsentscheidungen werden lediglich auf sog. Abwägungsfehlerüberprüft[73]. Diese Abwägungsfehler ähneln in ihrer Grundstruktur den Ermessensfehlern. Ein Abwägungsfehler liegt vor, wenn
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eine Abwägung gar nicht stattgefunden hat (Abwägungsausfall), |
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ein Belang in die Abwägung nicht eingestellt wird, der hätte eingestellt werden müssen (Abwägungsdefizit) |
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umgekehrt ein Belang eingestellt wird, der nicht hätte eingestellt werden dürfen (Abwägungsfehleinstellung), |
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ein Belang zwar eingestellt, aber nicht richtig gewichtet wurde (Abwägungsfehleinschätzung), |
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die ordnungsgemäß ermittelten und gewichteten Belange nicht in einen angemessenen Ausgleich zueinander gebracht worden sind (Abwägungsdisproportionalität). |
Diese Abwägungsfehler sollen im Rahmen dieser Abhandlung lediglich kurz vorgestellt werden. Relevant werden sie insbes. bei der Aufstellung von Bauleitplänen im Rahmen der Vorlesung zum öffentlichen Baurecht[74].
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Auch das sog. Regulierungsermessen bildet eine besondere Ausprägung des Ermessens. Einschlägig ist es im Regulierungsrecht, welche die netzgebundenen Infrastrukturen zum Gegenstand hat (insbes. Energie und Telekommunikation). Der Begriff der Regulierungist zwar bislang noch nicht letztgültig erschlossen. Nach einem funktionalen Verständnis ist sie einerseits auf die Sicherung von Wettbewerb, andererseits auf die Gewährleistung spezifischer Versorgung gerichtet[75]. Die Regulierung erfolgt regelmäßig mittels einer Regulierungsverfügung. Bei deren Erlass kommt der zuständigen Behörde (regelmäßig der Bundesnetzagentur) ein weiter Gestaltungsspielraumzu, der als Regulierungsermessen bezeichnet wird. Dieses Regulierungsermessen weist eine große Nähe zum Planungsermessen auf. Deshalb liegt es nahe, auch bei den Grenzen und der Fehlerlehre auf die Grundsätze des Planungsermessens zurückzugreifen[76]. Während des Studiums relevant wird das Regulierungsrecht erst in einigen universitären Schwerpunktbereichen. Daher soll an dieser Stelle keine weitere Vertiefung erfolgen.
Teil II Grundbausteine des Verwaltungsrechts› § 8 Entscheidungsspielräume der Verwaltung› IV. Koppelungsvorschriften
IV. Koppelungsvorschriften
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Im Bereich des Verwaltungsrechts gibt es sehr häufig Vorschriften, die auf der Tatbestandsseite einen unbestimmten Rechtsbegriff enthalten und auf der Rechtsfolgenseite der Behörde Ermessen einräumen.
Beispiel:
§ 20 Abs. 3 S. 1 BImSchG lautet: „Die zuständige Behörde kann den weiteren Betrieb einer genehmigungsbedürftigen Anlage durch den Betreiber oder einen mit der Leitung des Betriebs Beauftragten untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit dieser Personen in Bezug auf die Einhaltung von Rechtsvorschriften zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen dartun, und die Untersagung zum Wohl der Allgemeinheit geboten ist.“
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Der Begriff „Unzuverlässigkeit“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff; weil der weitere Betrieb untersagt werden „kann“, besteht Ermessen. Normen, die sowohl unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten als auch der Behörde Ermessen einräumen, heißen „Koppelungsvorschriften“ oder Mischtatbestände[77]. Das Problem besteht darin, ob die gerade zuvor dargestellten Lösungen für das Ermessen der Verwaltung einerseits und den unbestimmten Rechtsbegriff andererseits auch im Falle der Koppelungsvorschriften Anwendung finden. Das BVerwG hat dieses jedenfalls einmal behauptet[78]: „Das Vorliegen eines dienstlichen Bedürfnisses für die Versetzung ist als unbestimmter Rechtsbegriff gerichtlich voll nachprüfbar, die daran anschließende Ermessensentscheidung jedoch nur auf Ermessensfehler.“ Das Gericht bejaht in diesem Fall die Möglichkeit genauer Trennungzwischen Erwägungen, die den Tatbestand oder die Rechtsfolge betreffen.
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Dieser Idealfall liegt freilich nicht immer vor. Es ist zum einen möglich, dass bereits bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs alle für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind; in diesem Fall spricht man vom Ermessensschwund, weil für die Ausübung des Ermessens keine Gesichtspunkte mehr ersichtlich sind.
Beispiel:
Nach § 35 Abs. 2 BauGB (Sa. I Nr 300) können sonstige Bauvorhaben im Außenbereich zugelassen werden, wenn ihre Ausführung oder Benutzung öffentliche Belange nicht beeinträchtigt. Wenn dem Bauvorhaben keine öffentlichen Interessen entgegenstehen, verbleiben im Rahmen der Ermessensprüfung lediglich geringe Spielräume für ein Ermessen[79]. Aber auch bei der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB belässt die umfangreiche Prüfung auf der Tatbestandsebene lediglich geringe Spielräume für ein verbleibendes Ermessen[80].
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