b) Dienstliche Beurteilungen
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Eng verwandt mit Prüfungsentscheidungen sind dienstliche Beurteilungen des Dienstherrn über einen Beamten, wie etwa die Entscheidung über den Aufstieg in eine höhere Besoldungsgruppe[26] oder eine Regelbeurteilung[27]. Der Grundfür die Anerkennung dieser Fallgruppe liegt – ebenso wie bei Prüfungsentscheidungen – darin, dass solche Entscheidungen nur begrenzt objektivierbar sind[28]. Nicht mehr erfasst vom Beurteilungsspielraum ist jedoch nach der jüngeren Rechtsprechung des BVerwG die gesundheitliche Eignung eines Beamten[29]. Die zum Prüfungswesen entwickelten Grenzendes Beurteilungsspielraums (s.o. Rn 199) können grundsätzlich auf die Fallgruppe der dienstlichen Beurteilungen übertragen werden[30]. Eine vergleichbare Interessenlage besteht bei der Besetzung eines Professorenamtes. Hier ist der Berufungskommission ein Beurteilungsspielraum zuzuerkennen, welcher jedoch seine Grenze ebenfalls in den Beurteilungsfehlern findet[31].
c) Entscheidungen weisungsfreier Gremien
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Eine weitere Fallgruppe bilden Entscheidungen weisungsfreier, pluralistisch besetzter Gremien, wenn die Entscheidung wertende Elementemit einem Einschlag eines vorausschauenden und zugleich richtungweisenden Urteils enthält: Dies gilt zB für die Bewertung von Weizensorten durch einen unabhängigen Sachverständigenausschuss nach dem Saatgutverkehrsgesetz[32], für die Zulassung eines Börsenmaklers durch den Börsenvorstand[33] oder für die Bewertung eines Weines durch eine Weinprüfungskommission[34]. Auch hier wird der Beurteilungsspielraum begrenzt durch die allgemeinen Beurteilungsfehler(s.o. Rn 199)[35].
d) Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen
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Eine besonders dynamische Fallgruppe bilden die Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen. Sie ist zunächst im Umwelt- und Technikrechtentwickelt worden. Prägend war hier insbes. die Entscheidung des BVerwG aus dem Jahre 1985 zur Frage, welche Maßnahmen zur nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlichen Vorsorge gegen Schäden nach dem Atomrecht erforderlich sind. Insbes. im Hinblick auf den Stand der Wissenschaft hat hier das Gericht einen Prognosespielraum der zuständigen Behörde anerkannt[36]. Ein Beispielaus jüngerer Zeit bildet die Vorschrift des § 18a Abs. 1. S. 1 LuftVG: Danach dürfen Bauwerke (in diesem Falle Windenergieanlagen) nicht so errichtet werden, dass Flugsicherungseinrichtungen dadurch gestört werden können. Auch hier hat das BVerwG eine fachrechtliche Einschätzungsprärogative anerkannt und sich auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt[37]. Von aktueller Bedeutung sind auch die zunehmend anerkannten Beurteilungsspielräume im Naturschutzrecht[38]
.
204
Gerade diese Fallgruppe lässt erkennen, dass häufig auch die Funktionsgrenzen der Rechtsprechungeinen Beurteilungsspielraum zu rechtfertigen vermögen[39]. Denn anderenfalls müsste ein Richter in den genannten Beispielsfällen über die Kenntnisse eines Atomphysikers, Ingenieurs oder Ökologen verfügen. Dies kommt auch in der Grundsatzentscheidung des BVerfG aus dem Jahre 2018 zum Ausdruck: Dort wird der naturwissenschaftliche Beurteilungsspielraum nicht mehr mit der normativen Ermächtigung begründet, sondern mit fachwissenschaftlichen Erkenntnisgrenzen[40]
. Sieht man den zentralen Grund für diese Fallgruppe in den Funktionsgrenzen der Rechtsprechung, so können auch Risikobeurteilungen außerhalb des Umwelt- und Technikrechts erfasst werden. Dies gilt etwa für die Einschätzung des Sicherheitsrisikos bei der Ernennung eines Beamten in den Bundesnachrichtendienst[41]
.
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Allerdings ist gerade bei dieser Fallgruppe Zurückhaltunggeboten. Denn gestützt auf ein reichhaltiges Anwendungsfeld der Prognose- und Risikoentscheidungen könnte anderenfalls der Grundsatz der vollständigen gerichtlichen Kontrolle zur Ausnahme werden. Zu Recht hat das BVerwG daher bei einer Gefahrenprognose im Zusammenhang mit einer Abschiebungsanordnung keinen Beurteilungsspielraum anerkannt[42]. Zudem sind auch bei Anerkennung eines Beurteilungsspielraums dessen Grenzen zu beachten. Deshalb können die im Prüfungsrecht bereits lange anerkannten Beurteilungsfehlerauf diese Fallgruppe übertragen werden (s.o. Rn 199). Insbes. darf eine Entscheidung nicht willkürlich sein[43].
Teil II Grundbausteine des Verwaltungsrechts› § 8 Entscheidungsspielräume der Verwaltung› III. Ermessen der Verwaltung
III. Ermessen der Verwaltung
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Nach dem zuvor Gesagten werden Entscheidungsspielräume auf der Tatbestandsseite Beurteilungsspielräume genannt. Sind sie auf der Rechtsfolgenseiteangesiedelt, handelt es sich um Ermessensspielräume. Es gibt zwei Formen der Ermessenseinräumung, das Entschließungsermessen und das Auswahlermessen. Das Entschließungsermessenräumt der Verwaltung Entscheidungsfreiheit insoweit ein, ob sie überhaupt tätig wird. Das Auswahlermessenräumt der Verwaltung Entscheidungsfreiheit insoweit ein, welche von verschiedenen denkbaren Maßnahmen sie wählt, wenn sie ihr Entschließungsermessen positiv ausgeübt hat, und gegen wen sie diese Maßnahme richtet.
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Der Gesetzgeber räumt der Verwaltung Ermessen ein, um ihr eigenverantwortliche und individuelle Entscheidungen zu gestatten. Die individuelle Entscheidung soll Einzelfallgerechtigkeitermöglichen: Die Einräumung von Ermessen erlaubt es der Behörde, entsprechend den gesetzlichen Zielvorstellungen konkrete Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und zu einer sachgerechten Lösung zu gelangen; sie kann Zweckmäßigkeits- und Billigkeitserwägungen anstellen. Neben der individuellen Ermessensausübung ist auch eine generelle Ermessensausübung erlaubt. Die generelle Ermessensausübung kennzeichnet, dass gleich gelagerte Fälle gleich entschieden werden. In der Regel wird die generelle Ermessensausübungin der Weise gehandhabt, dass mit Hilfe von Verwaltungsvorschriften die Bediensteten angewiesen werden, bestimmte gleich gelagerte Fälle in gleicher Weise zu entscheiden.
Beispiel
für die generelle Ermessensausübung: Nach Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte. Das Innenministerium des Landes X weist die Einstellungsbehörde an, nur solche Volljuristen zu Einstellungsgesprächen zu laden, die beide Staatsexamen mit Prädikat bestanden haben.
2. Die Einräumung des Ermessens
a) Ermittlung des Ermessensspielraums
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Ob der Verwaltung Ermessen eingeräumt ist, ergibt sich aus dem Gesetz. Gesetzestechnisch sind vier Fälle zu unterscheiden:
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Das Gesetz selbst spricht ausdrücklichvon Ermessen, dieser Fall ist freilich selten. Beispiel: § 17 Abs. 2 SGB XII: „Über Form und Maß der Sozialhilfe ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, soweit dieses Gesetz das Ermessen nicht ausschließt.“ |
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Die Einräumung von Ermessen ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhangder Regelung, auch dieser Fall ist nicht häufig. Beispiel: Nach § 48 StVO müssen Verkehrsteilnehmer, die Verkehrsvorschriften nicht beachten, an einem Verkehrsunterricht teilnehmen. Wer zum Verkehrsunterricht geladen wird, liegt im Ermessen der Behörde. |
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Das Ermessen wird durch Formulierungenwie „kann“, „darf“ und „ist berechtigt“ oder ähnliche Wendungen eingeräumt; dies ist der praktische Regelfall der Einräumung eines Ermessens. Beispiele: § 20 Abs. 2 S. 1 KrWG: „Die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsunternehmen können… Abfälle von der Entsorgung ausschließen; § 21 Abs. 1 BImSchG: „Eine nach diesem Gesetz erteilte rechtmäßige Genehmigung darf… für die Zukunft nur widerrufen werden, wenn …. |
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Das Ermessen wird durch eine sog. „Sollvorschrift“gewährt. Auf diese besondere Konstellation des Ermessens wird abschließend gesondert eingegangen (s.u. Rn 219). Beispiel: § 20 Abs. 2 BImSchG: „Die zuständige Behörde sollanordnen, dass eine Anlage, die ohne die erforderliche Genehmigung errichtet … wird, stillzulegen … ist.“ |
b) Abgrenzung von gebundenen Entscheidungen
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