Teil II Grundbausteine des Verwaltungsrechts› § 8 Entscheidungsspielräume der Verwaltung› II. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Beurteilungsspielraum
II. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Beurteilungsspielraum
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Der Gesetzgeber kann die Tatbestandselemente einer Rechtsnorm unterschiedlich präzise formulieren. Er kann zum einen Begriffe verwenden, deren Inhalt wohldefiniert ist, zum anderen darf er solche Begriffe wählen, über deren Inhalt sich streiten lässt. Das Problem ist bereits bekannt aus dem Bereich des Strafrechts: Es gibt wohl kaum ein Element eines Straftatbestands, welches nicht umstritten ist. Im Bereich des öffentlichen Rechts verwendet der Gesetzgeber ebenfalls unbestimmte Gesetzesbegriffe. Solche unbestimmten Rechtsbegriffesind etwa Gefahr, öffentliche Sicherheit, Gemeinwohl, öffentliches Interesse, wichtiger Grund, Zuverlässigkeit, Bedürfnis, Verunstaltung, unwürdig, zumutbar. Sie begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, sofern sie eine hinreichende Bestimmtheit wahren[5].
Weitere Beispiele:
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Art. 33 Abs. 2 GG: Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte; |
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§ 3 Abs. 1 S. 1 KrWG: Abfälle im Sinne dieses Gesetzes sind alle Stoffe oder Gegenstände, derer sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss; |
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§ 34 Abs. 7 Nr 3 BerlHG: Ein … akademischer Grad kann … entzogen werden, wenn sich der Inhaber … unwürdig erwiesen hat. |
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Den Rechtsanwendern obliegen die Auslegung und damit die inhaltliche Festlegung der unbestimmten Rechtsbegriffe. Durchweg fordern etwa die gewerberechtlichen Vorschriften, dass der Gewerbetreibende zuverlässig sein muss; wann jemand zuverlässig ist, bedarf der Festlegung. Diese Entscheidung muss die Behörde fällen, auch wenn sie Zweifel hat. Es geht darum, mit Hilfe prognostischer Erwägungen und unter Berücksichtigung höchst unterschiedlicher Gesichtspunkte den Bereich des Zweifels zu reduzieren[6].
2. Grundsatz der vollständigen gerichtlichen Überprüfbarkeit
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Nach ganz hM kommt der Behörde bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe grds. kein Beurteilungsspielraum zu[7]. Sie basiert auf der richtigen Annahme, dass nach juristischem Verständnis grds. nur eine Entscheidung „richtig“ sein kann[8]. Zudem folgt aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzesnach Art. 19 Abs. 4 GG auch der Grundsatz eines vollständigen Rechtsschutzes. Die von der Verwaltungsbehörde erarbeiteten Ergebnisse unterliegen folglich grds. vollständig der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte.
Beispiele:
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Die im Rahmen der polizeilichen Generalklausel bereits angesprochenen Begriffe der „Gefahr“ sowie der „öffentlichen Sicherheit“ und der „öffentlichen Ordnung“ weisen ein hohes Maß an Unbestimmtheit auf. Gleichwohl ist anerkannt, dass den zuständigen Behörden hier kein Beurteilungsspielraum zukommt. Begründet wird dies – neben dem Grundsatz des Art. 19 Abs. 4 GG – insbes. damit, dass die Begriffe in einer langen Rechtsprechungslinie konturiert worden sind[9]. |
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Die Ladenöffnungsgesetze der Länder gestatten Tankstellen außerhalb der üblichen Ladenöffnungszeiten den Verkauf von „Reisebedarf“. Aus dem Begriff ergibt sich aber weder die genaue sachliche Reichweite (gehören etwa Genussmittel dazu? wenn ja, in welchem Umfang?) noch die personelle Reichweite (nur der Fahrer, auch Mitfahrer?). Gleichwohl ist der unbestimmte Rechtsbegriff vollständig gerichtlich überprüfbar[10]. |
3. Anerkannte Ausnahmen und ihre Grenzen
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Die vollständige Überprüfbarkeit der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe bildet nur den Grundsatz. Die Ausnahmen von diesem Grundsatz bedürfen allerdings einer tragfähigen Begründung. Nach der inzwischen ganz überwiegend vertretenen normativen Ermächtigungslehre[11]
ist das jeweils einschlägige Gesetz ausschlaggebend. Dessen Gehalt ist im Wege der Auslegung nach den allgemeinen Regeln zu ermitteln. In bestimmten Fällen hat der Gesetzgeber der Verwaltung ausdrücklicheinen Beurteilungsspielraum eingeräumt: Entsprechende Regelungen finden sich etwa in § 10 Abs. 2 S. 2 TKG (Marktdefinition im Bereich der Telekommunikation) oder in § 5 Abs. 3 S. 2 UVPG (Feststellung der Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung: „nachvollziehbar“). Im Regelfall ist jedoch auf die in der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppenzurückzugreifen. Dabei sind die verschiedenen Gründe für die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums teilweise kombinierbar[12]
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a) Prüfungen und prüfungsähnliche Entscheidungen
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Eine Beurteilungsermächtigung ist eingeräumt für Prüfungs- und prüfungsähnliche Entscheidungen sowie Schulentscheidungen[13]. Der Grundfür den Bewertungsspielraum liegt darin, dass Prüfer bei ihrem wertenden Urteil von Einschätzungen und Erfahrungen ausgehen müssen, die sie im Laufe ihrer Examenspraxis bei vergleichbaren Prüfungen entwickelt haben und allgemein anwenden[14]. Hinzu kommt, dass die Prüfungssituation nicht wiederholbar ist[15]. Die Stützung der Ausnahme auf solche personalen Elemente weist aber auch eine Kehrseite auf: Wird der Notengebungsprozess rein mathematisch gesteuert – etwa bei einer Multiple-Choice-Aufgabe –, findet eine vollständige gerichtliche Überprüfung statt[16].
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Der grds. anzuerkennende Beurteilungsspielraum ist allerdings nicht unbegrenzt. Vielmehr ist die Prüfungsentscheidung auf bestimmte Beurteilungsfehlerhin zu kontrollieren[17]. Die Entscheidungen sind deshalb insoweit gerichtlich überprüfbar, als die Prüfer Verfahrensvorschriften nicht beachtet haben[18], von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen sind[19], sich von sachfremden Erwägungen haben leiten lassen[20], allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe nicht beachtet oder sonst willkürlich gehandelt haben[21]. Der Beurteilungsspielraum erstreckt sich zudem nicht auf fachliche Wertungen des Prüfers: Eine fachlich vertretbare Ansicht darf nicht als falsch gewertet werden[22]
. Vom Beurteilungsspielraum des Prüfers erfasst ist demgegenüber die Frage, wie der Prüfling die Anforderungen der konkreten Prüfungsaufgabe bewältigt hat[23]
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Zudem hat das BVerwG bestimmte Anforderungen an die Begründung einer Prüfungsbewertungaufgestellt[24]: Die Begründung muss ihrem Inhalt nach so beschaffen sein, dass das Recht des Prüflings, Einwände gegen die Abschlussnote wirksam vorzubringen, ebenso gewährleistet ist wie das Recht auf gerichtliche Kontrolle des Prüfungsverfahrens unter Beachtung des Beurteilungsspielraums der Prüfer. Daher müssen die maßgeblichen Gründe, die den Prüfer zur abschließenden Bewertung veranlasst haben, zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch in den für das Ergebnis ausschlaggebenden Punkten erkennbar sein. Ein Anspruch auf Bewertung einer Prüfungsleistung durch andere Prüfer besteht nicht, es sei denn, es bestehen tatsächliche Anhaltspunkte für eine Voreingenommenheit[25].
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