100
Bereits in der Weimarer Zeit kam der Wunsch nach einem VwVfG auf. Zu einer Kodifikation durch das Reich kam es jedoch nicht. Das Land Thüringen hatte im Jahre 1926 eine Landesverwaltungsordnung erlassen, die bereits wesentliche Teile des heute geltenden Rechts enthielt. Das Land Württemberg hatte 1931 einen Entwurf einer Verwaltungsrechtsordnung publiziert, die versuchte, das gesamte Allgemeine Verwaltungsrecht zu kodifizieren; dem Entwurf blieb zwar die Gesetzeskraft vorenthalten, er zeitigte in der Praxis aber große Bedeutung. Während der 50er-Jahre wandte sich die Diskussion verstärkt einem VwVfG zu. Der 43. Deutsche Juristentag forderte 1960 in München eine einheitliche Regelung des Verwaltungsverfahrensrechts. Sein Beschluss beförderte gesetzliche Vorhaben. Wegen der verfassungsrechtlich begrenzten Kompetenz des Bundes zum Erlass eines solchen Gesetzes (s. Art. 84 Abs. 1 und 85 Abs. 1 GG) einigte man sich auf die Erarbeitung eines Musterentwurfs; auf dessen Basis sollten Bund und Länder jeweils gleichlautende VwVfGe erlassen. 1963 und 1966 wurden solche Musterentwürfe publiziert. Sie bildeten die Basis einer ausführlichen wissenschaftlichen Diskussion. 1970 und 1973 gelangten Entwürfe eines VwVfG in die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes. Die überarbeitete Fassung des Entwurfs von 1973 wurde schließlich Gesetz[49]. Das VwVfG des Bundes stammt vom 25.5.1976. Es trat am 1.1.1977 in Kraft. Es liegt nunmehr in der Bekanntmachung v. 23.1.2003[50] vor und wurde zuletzt durch Gesetz v. 21.6.2019 geändert[51].
2. Die Bedeutung des Verwaltungsverfahrensgesetzes
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Die zentrale Bedeutung des VwVfG-Bund liegt in der Rechtsvereinheitlichung. Das Gesetz ersetzt eine Vielzahl von an verschiedensten Stellen enthaltenen fragmentarischen Spezialvorschriften verwaltungsverfahrensrechtlicher Art. Eine weitere Bedeutung liegt in der Entlastung des Gesetzgebers: Er braucht jetzt nicht mehr verwaltungsverfahrensrechtliche Regeln zu erlassen; er kann im Gegenteil in Spezialnormen enthaltene verwaltungsverfahrensrechtliche Aussagen streichen und damit das allgemeine Recht zu Anwendung gelangen lassen. Ferner ist das VwVfG mit Blick auf die Vereinfachung und Rationalisierung der Verwaltung von Vorteil. Sie besitzt klare und handhabbare Normen für ihre Arbeit. Letztlich dient das VwVfG auch dem Bürger; seine Rechte im Verwaltungsverfahren sind positiv-rechtlich geregelt und gewährleistet.
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Für das Allgemeine Verwaltungsrecht liegt die Bedeutung des VwVfG darin, dass wesentliche zuvor ungeschrieben geltende allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts positiv-rechtlich normiertsind. Ferner sind Unklarheiten betreffend die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsverfahrensrechts entfallen und Streitfragen entschieden worden. Das Gesetz bildet zugleich die Basis der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung für die Entwicklung und Konkretisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts.
3. Der Anwendungsbereich des Bundesgesetzes
a) Öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit (§ 1 Abs. 1, 2 VwVfG)
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Das VwVfG findet nur dann Anwendung, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden handelt. Verwaltungsverfahrensrecht gilt also nicht, wenn die Verwaltung sich für die Durchführung ihrer Arbeit der Form des Privatrechts, einschließlich des Verwaltungsprivatrechts, bedient. Damit sind einige Bereiche der heutigen Tätigkeit von Behörden der regulierenden Wirkung des VwVfG entzogen[52]. Allerdings können in besonderen in besonderen Konstellationen des Privatrechts einzelne Bestimmungen des VwVfG analoge Anwendung finden. Dies gilt etwa für verwaltungsprivatrechtliche Verträge[53].
b) Subsidiaritätsklausel (§ 1 Abs. 1 VwVfG)
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Das VwVfG findet ferner dann keine Anwendung, wenn Rechtsvorschriften des Bundes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungenenthalten, § 1 Abs. 1 am Ende. Verwaltungsverfahrensrechtliche Spezialregelungen können in formellen Gesetzen und Rechtsverordnungen enthalten sein, nicht aber in Satzungen.
Beispiel:
Die 9. BImSchV – Verordnung über das Genehmigungsverfahren für genehmigungsbedürftige Anlagen iSd BImSchG (Sa. I Nr 296b) – enthält das VwVfG-Bund ersetzende Spezialregelungen.
In einigen Fachmaterien ist die Durchnormierung spezialgesetzlicher Verfahrensanforderungen bereits so weit vorangeschritten, dass dies die eingangs genannte Vereinheitlichungsfunktion des VwVfG in Fragestellt. Dies gilt etwa für das Planfeststellungsrecht, von dem viele bedeutsame Infrastrukturvorhaben (zB Bundesfernstraßen) erfasst werden[54]. Aber auch im E-Government-Gesetz des Bundes[55] wird das Verwaltungsverfahren nach dem VwVfG nicht unbeträchtlich modifiziert[56].
105
Die in § 1 Abs. 1 enthaltene Subsidiaritätsklausel gilt unmittelbar nur für das Bundesrecht. Die Ländergesetze enthalten freilich ebenfalls eine Subsidiaritätsklausel. Soweit die Landesverwaltungsverfahrensgesetze zur Anwendung gelangen (s. dazu Rn 108 ff), ist darauf zu achten, ob in Landesgesetzenverwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften enthalten sind. Verwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften finden sich in den Bauordnungen der Länder (etwa in §§ 63 ff BauO Berlin)[57]. Insofern sind die Regelungen des VwVfG nicht anzuwenden.
c) Ausnahmen für spezielle Bereiche (§ 2 VwVfG)
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In § 2 sind Bereichsausnahmen vom Anwendungsbereich des VwVfG normiert. So werden etwa nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Verfahren nach der Abgabenordnung vom Anwendungsbereich des VwVfG ausgenommen, ebenso wie nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 Verfahren nach dem Sozialgesetzbuch[58]. Die Ausnahmen sind in der Verwaltungspraxis von großer Bedeutung, spielen in den klassischen universitären Materien des Allgemeinen und Besonderen Verwaltungsrechts aber nur eine untergeordnete Rolle. Daher wird an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung verzichtet[59].
107
Lösung Fall 3 ( Rn 98):
A kann sein Begehren nicht auf §§ 28, 29 stützen. Das VwVfG-Bund ist nur subsidiär anwendbar, § 1 Abs. 1 am Ende. Rechte des A auf Anhörung etc ergeben sich aus §§ 10a, 12, 14 ff 9. BImSchV.
4. Der Anwendungsbereich der Ländergesetze
a) Vollzug von Landesrecht
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Der Vollzug von Landesrecht ist im VwVfG des Bundes nicht geregelt. Denn der Bund kann aus kompetenziellen Gründen die Verwaltungstätigkeit der Länder nicht normieren, wenn die Länder eigenes Recht vollziehen. Wann für den Vollzug des Landesrechts das VwVfG des jeweiligen Bundeslandes gilt, regeln deshalb die Landesgesetze jeweils in den ersten Paragrafen.
b) Vollzug von Bundesrecht durch Landesbehörden (§ 1 Abs. 2, 3 VwVfG)
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Wir haben gesehen, dass für die Ausführung von Bundesgesetzen durch den Bund das VwVfG-Bund und für die Ausführung von Landesgesetzen durch die Länder das jeweilige VwVfG-Land gilt. Für den dazwischen liegenden Bereich, also diejenigen Gegenstände, die in Art. 84 und 85 GG geregelt sind, sieht das VwVfG-Bund in § 1 Abs. 1 und Abs. 2 vor, dass das VwVfG-Bund gilt; die Anwendbarkeit dieses Rechts endet in einem Bundesland aber immer dann, wenn ein VwVfG-Land in Kraft tritt, s. § 1 Abs. 3 VwVfG-Bund. Alle Bundesländer haben ein VwVfG erlassen. Für die in den Art. 84 und 85 GG genannten Tätigkeiten gilt also das jeweilige VwVfG-Land.
Bild 1:
Anwendungsbereiche des VwVfG-Bund und der VwVfGe-Land
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