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Als Rechtsquellen kommen beide Ebenen des Unionsrechts in Betracht, also sowohl das Primärrechtals auch das Sekundärrecht (zu den Begriffen s.o. Rn 51). Für das Verwaltungsrecht von besonderer Bedeutung sind zunächst die in Art. 28 ff. AEUV geregelten Grundfreiheiten[23] .Sie dienen nach Art. 26 Abs. 2 AEUV der Verwirklichung des Binnenmarktes und entfalten daher ihre besondere Bedeutung im öffentlichen Wirtschaftsrecht[24]. Von den in Art. 288 AEUV aufgelisteten Handlungsformen des Sekundärrechtssind für die Rechtsquellenlehre Verordnungen und Richtlinien von Bedeutung. Verordnungensind nach Art. 288 Uabs. 2 S. 2 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union.
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Richtliniender Europäischen Union sind hingegen grundsätzlich umsetzungsbedürftig, da sie nach Art. 288 Abs. 3 AEUV lediglich das Ziel verbindlich vorgeben, jedoch die Wahl der Form und der Mittel den Mitgliedstaaten überlassen. Werden sie nicht ordnungsgemäß oder rechtzeitig umgesetzt, so kann ein sog. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV gegen den Mitgliedstaat eingeleitet werden. Vor dem Hintergrund des Effektivitätsprinzips (s.o. Rn 53) hat der Europäische Gerichtshof allerdings einen alternativen Sanktionsmechanismus entwickelt: Danach wirken Richtlinien im Verhältnis zum Bürger dann (ausnahmsweise) unmittelbar, wenn – erstens – die Frist zur Umsetzung der Richtlinie ohne ordnungsgemäße Umsetzung verstrichen ist, wenn – zweitens – es sich um eine unbedingte Bestimmung handelt, die den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum belässt und wenn – drittens, dies vor allem – die betreffende Bestimmung der Richtlinie hinreichend bestimmt ist[25]. Die Figur der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ist jedoch begrenzt auf das vertikale Verhältnis zwischen Staat und Bürger und erfasst auch insoweit nur den Bürger begünstigende Regelungen[26].
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Schließlich bildet auch das Völkerrecht eine für das Verwaltungsrecht relevante Rechtsquelle, die in ihrer Bedeutung jedoch hinter derjenigen des Unionsrechts zurückbleibt. Hier ist zu unterscheiden zwischen den allgemeinen Regeln des Völkerrechtsnach Art. 25 GG und dem sonstigen Völkerrecht. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind nach Art. 25 S. 1 GG Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen nach Art. 25 S. 2 GG den Gesetzen vor und erzeugen unmittelbare Rechte und Pflichten[27]. Zu diesen allgemeinen Grundsätzen gehört etwa die territoriale Souveränität eines Staates: Die Hoheitsgewalt ist damit grundsätzlich auf das Staatsgebiet begrenzt[28]. Auch hierin kommt der zentrale Unterschied des Völkerrechts zum Unionsrecht zum Ausdruck.
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Im Gegensatz dazu muss das sonstige Völkerrechtnach Art. 59 Abs. 2 GG durch ein Zustimmungsgesetz in nationales Recht umgewandelt werden[29]. So wird etwa das Umweltrecht durch die sog. Aarhus-Konventiongeprägt. Darin wird der betroffenen Öffentlichkeit der Zugang zu Umweltinformationen, die Beteiligung in umweltrelevanten Verwaltungsverfahren sowie der Zugang zu Gericht in diesen Angelegenheiten garantiert[30]. Die Aarhus-Konvention ist aber nicht nur von der Bundesrepublik Deutschland und anderen Vertragsstaaten umgesetzt worden, sondern auch von der Europäischen Union. Soweit die Inhalte der Konvention in sekundäres Unionsrecht eingeflossen sind, partizipieren sie an dessen Wesen.
Teil I Grundlagen› § 4 Rechtsquellen des Verwaltungsrechts› II. Rangfolge der Rechtsquellen
II. Rangfolge der Rechtsquellen
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Zwischen den aufgezeigten (geschriebenen) Rechtsquellen besteht eine Normenhierarchie[31]. Danach verdrängt höherrangiges Recht niederrangiges („lex superior derogat legi inferiori“). An der Spitze dieser Hierarchie steht das Unionsrecht. Denn es genießt gegenüber dem nationalen Recht einen Anwendungsvorrang. In Widerspruch zu Unionsrecht befindliches innerstaatliches Recht darf also nicht angewandt werden. Voraussetzung ist jedoch, dass der Europäischen Union eine entsprechende Kompetenz eingeräumt wurde und beim Erlass des Unionsrechts auch die sonstigen Schranken insbes. nach Art. 5 EUV beachtet worden sind (s.o. Rn 52). Zudem muss nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG die Identität der Verfassung gewahrt bleiben[32]. An der zweiten Rangstelle steht das Verfassungsrecht. Es genießt gegenüber dem sonstigen nationalen Recht nicht nur Anwendungsvorrang, sondern – zumindest im Grundsatz – Geltungsvorrang[33]. Formelle und materielle Gesetze, die nicht in Einklang mit der Verfassung stehen, sind also regelmäßig nichtig. Schließlich sind die – im Verwaltungsrecht allerdings nur begrenzt bedeutsamen – allgemeinen Regeln des Völkerrechtszwar gegenüber der Verfassung nachrangig; sie gehen jedoch gemäß Art. 25 S. 2 GG den (formellen und materiellen) Gesetzen vor[34].
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Die nächste Stufe in der Normenhierarchie bilden die formellen Gesetze. Ihnen gleich stehen die gemäß Art. 59 Abs. 2 GG durch Zustimmungsgesetz umgesetzten sonstigen Bestimmungen des Völkerrechts. Formelle Gesetze sind zugleich gegenüber den materiellen Gesetzen vorrangig. Soweit nicht bereits die Rechtsetzungsbefugnis durch Gesetz eingeräumt ist und daher auch wieder entzogen werden kann, müssen Rechtsverordnungen und Satzungenin Einklang mit den formellen Gesetzen stehen. Ist dies nicht der Fall, so sind sie grundsätzlich nichtig. Allerdings hat der Gesetzgeber teilweise die Nichtigkeitsfolge abgemildert und manche Verstöße für unbeachtlich oder zumindest heilbar erklärt. Dies gilt etwa für den Bereich der Bauleitplanung gemäß §§ 214 f BauGB[35]. Zwischen Rechtsverordnungen und Satzungen besteht typischerweise kein echtes Rangverhältnis, da delegierte Rechtsetzung und autonome Rechtsetzung zueinander eine Alternativfunktion aufweisen[36]. Auf der untersten Stufe der geschriebenen Rechtsquellen stehen schließlich die Verwaltungsvorschriften. Denn sie entfalten zumindest grundsätzlich nur im Binnenbereich der Verwaltung Bindungswirkung und partizipieren daher auch nicht an der Gesetzesbindung der Verwaltung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG[37].
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Die ungeschriebenen Rechtsquellendes Gewohnheitsrecht, des Richterrechts sowie der allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts dienen nach dem Gesagten grundsätzlich nur zur Schließung von Lücken der geschriebenen Rechtsquellen (s.o. Rn 75). Soweit überhaupt noch eine solche Lückenschließung erforderlich ist, partizipieren die ungeschriebenen Rechtsquellen an der Art und Stufe der geschriebenen Rechtsquellen, die sie ersetzen oder ergänzen[38]. Dies wird oftmals, wenn auch nicht notwendigerweise, die Stufe eines formellen Gesetzes sein.
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In der Verwaltungspraxiswerden oftmals zunächst die auf der unteren Hierarchiestufe befindlichen Rechtsquellen herangezogen. Dies darf aber nicht als Missachtung der Normenhierarchie gedeutet werden. Vielmehr weisen die jeweils niedrigeren Rechtsquellen einen höheren inhaltlichen Konkretisierungsgrad auf. Und Verwaltungsvorschriften sollen das Verwaltungshandeln gerade dort steuern, wo (formelle und materielle) Gesetze keine bzw. keine abschließende Aussage treffen (s.o. Rn 73).
2. Bundesrecht bricht Landesrecht
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Aufgrund der föderalistischen Staatsstruktur kann es zu Kollisionen zwischen Bundesrecht und Landesrecht kommen. Die Kollisionsregel der Art. 31 GGsieht hier vor, dass Bundesrecht Landesrecht bricht. Der damit geregelte Vorrang gilt für jede Stufe des Bundesrechts. Eine echte Kollisiontritt aber nur dann ein, wenn sowohl Bundesrecht als auch Landesrecht jeweils gültig ist. So ist der Vorrang des Bundesrechts von vornherein auf solche Rechtsnormen beschränkt, die kompetenzkonform erlassen wurden und auch mit höherrangigem Recht in Einklang stehen[39]. Umgekehrt ist kompetenzwidrig erlassenes oder aus sonstigen Gründen ungültiges Landesrecht bereits aus diesen Gründen nichtig und muss daher nicht gebrochen werden[40].
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