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Eine Grenze der Anwendbarkeitdes privaten Rechts als öffentliches Recht ist erreicht, wenn dadurch Kompetenzen der öffentlichen Verwaltung erweitert werden. Die praktische Bedeutung dieser Grenze besteht darin, dass eine analoge Anwendung des Privatrechts nur eine Rechtsfolgenverweisung, nicht aber eine Rechtsgrundverweisung bewirkt. Deshalb führt die Anwendung der §§ 688 ff BGB (Verwahrung) nur zu Regelungen über die Art und Weise der Verwahrung, nicht aber vermag die Anwendung dieser Normen einen neuen Rechtsgrund für eine Verwahrung zu liefern.
2. Das sog. Verwaltungsprivatrecht
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Die öffentliche Verwaltung kann in bestimmten Konstellationen aber auch auf der Grundlage des Privatrechts tätig werden. Öffentlich-rechtlich überlagertes und gebundenes Privatrecht wird als Verwaltungsprivatrecht bezeichnet[43]. Zu diesem Verwaltungsprivatrecht i.w.S.gehören zunächst fiskalische Hilfsgeschäfte, wie etwa der Einkauf von Büromaterial. Erfasst wird darüber hinaus die erwerbswirtschaftliche Betätigung der Verwaltung, etwa durch den Erwerb von Unternehmensanteilen durch die öffentliche Verwaltung. Schließlich ist das Verwaltungsprivatrecht i.e.S. zu nennen: Hier nimmt die öffentliche Verwaltung öffentliche Aufgaben (ausnahmsweise) in den Formen des Privatrechts wahr. Da damit zugleich das Arsenal der Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung erweitert wird, erfolgt eine ausführliche Behandlung in Teil III (s.u. § 23). Hier stellen sich insbes. die Fragen etwaiger Grenzen bei der Wahl dieser Handlungsformen sowie der Bindung an öffentlich-rechtliche Handlungsmaßstäbe, insbes. die Grundrechte[44].
Teil I Grundlagen› § 3 Verortung des Verwaltungsrechts in der Rechtsordnung› VI. Entwicklung des Verwaltungsrechts
VI. Entwicklung des Verwaltungsrechts
1. Aktuelle Entwicklungstendenzen
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Die verschiedenen Gebiete des Verwaltungsrechts weisen eine sehr unterschiedliche Fortentwicklungsdynamik auf. Besonders stark ausgeprägt ist diese im Bereich des Umweltrechts[45], aber auch des öffentlichen Wirtschaftsrechts[46]. Im Vergleich dazu erweist sich das Allgemeine Verwaltungsrecht als beständig. Allerdings setzen auch hier immer neue Entwicklungen ein. Wichtige Impulse gehen hier insbes. von der Europäischen Union aus (Stichwort: Europäisierungdes Verwaltungsrechts). So beruhen etwa die Vorschriften zum Verfahren vor einer einheitlichen Stelle nach §§ 71a ff auf den unionsrechtlichen Vorgaben der Dienstleistungs-Richtlinie (dazu Rn 178). Zudem wird auch das Allgemeine Verwaltungsrecht zunehmend von der Digitalisierunggeprägt. Ihren vorläufigen Höhepunkt hat diese Entwicklung in der Anerkennung des vollautomatisierten Verwaltungsakts nach § 35a gefunden (dazu Rn 412)[47]. Unabhängig davon wird auch das Allgemeine Verwaltungsrecht immer wieder von Reformüberlegungen beeinflusst[48]. Dies gilt etwa für die Fortentwicklung des öffentlich-rechtlichen Vertrags[49].
2. Die sog. „neue Verwaltungsrechtswissenschaft“
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Einen übergreifenden Reformansatz verfolgt nach eigenem Verständnis die sog. „neue Verwaltungsrechtswissenschaft“[50]. Zu deren zentralen Merkmalengehört insbes. die Öffnung der Verwaltungsrechtswissenschaft für Nachbardisziplinen und die damit verbundene Einbeziehung der aus den Nachbarwissenschaften stammenden Reformansätze. Dabei handelt es sich aber weniger um einen Paradigmenwechsel als um einen kontinuierlichen Öffnungsprozess[51]. Die neue Verwaltungsrechtswissenschaft kann für die Forschung auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts wichtige Impulse setzen[52]; für die Lehre im Allgemeinen sowie für die erstmalige Aneignung des Allgemeinen Verwaltungsrechts im Besonderen ist sie jedoch allenfalls begrenzt relevant[53].
Ausbildungsliteratur:
Ehlers , Die Entwicklung des kodifizierten Verwaltungsverfahrensrechts, JURA 2016, 603; Friehe , Tagesshow im Bundestag; JURA 2017, 852 (Hausarbeit zum Hausrecht des Bundestagspräsidenten); Fromberger/Schmidt , Die Kollision von nationalem und europäischem Recht, ZJS 2018, 29; Korte , Grundlagen des Subventionsrechts, JURA 2017, 656; Krüger , Die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, JuS 2013, 598; Lorenz , Kirchenglocken zwischen öffentlichem und privatem Recht, JuS 1995, 492.
[1]
Gröpl , Rn 105.
[2]
Vert. Becker , NVwZ 2019, 1385 ff; Schröder , DVBl. 2019, 1097 ff.
[3]
S. BVerfGE 42, 20, 28 ff; 61, 149, 174 ff.
[4]
Übersicht über weitere Theorien bei Maurer/Waldhoff , § 3 Rn 15.
[5]
Bull/Mehde , Rn 73; Schenke , VwProzR, Rn 104.
[6]
AöR Bd. 76, 205 ff.
[7]
Durch Bettermann , NJW 1977, 715 f; Bachof , FG BVerwG, 1978, S. 9 ff.
[8]
U. Stelkens , JURA 2016, 1013, 1015.
[9]
H.P. Ipsen , Öffentliche Subventionierung Privater, 1956, S. 62 ff. Zum Begriff der Subvention Ziekow , Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2016, § 6 Rn 5. Zsf. Korte , JURA 2017, 656, 665.
[10]
Ausf. Burgi , Kommunalrecht, 5. Aufl. 2019, § 16.
[11]
Beispiel für eine kumulierte Heranziehung der Subordinationstheorie und der Sonderrechtstheorie bei BVerwG, NVwZ 2007, 820, 821.
[12]
Maurer/Waldhoff , § 3 Rn 16 f.
[13]
Erbguth/Guckelberger , § 5 Rn 16; Maurer/Waldhoff , § 3 Rn 31.
[14]
Ehlers , in: ders./Pünder, § 3 Rn 62.
[15]
Hierzu Lorenz , JuS 1995, 492 ff.
[16]
BVerwG, NVwZ-RR 2019, 1029 (zu Planungsarbeiten der privatrechtlich organisierten DB Netz AG).
[17]
BVerwG, NJW 1980, 656 ff.
[18]
BVerwG, NJW 1980, 656 ff.
[19]
OLG Dresden, NVwZ-RR 1998, 343 f.
[20]
Zum Ganzen Bonk/Neumann/Siegel , in: S/B/S, § 54 Rn 54 ff.
[21]
Burgi , Kommunalrecht, 6. Aufl. 2019, § 16 Rn 53.
[22]
Etwa BVerwGE 35, 103, 106.
[23]
Etwa Stober , in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, § 22 Rn 45.
[24]
OVG Magdeburg, NVwZ-RR 2018, 134, 135.
[25]
Aktuelle Übersicht bei Peters/Lux , LKV 2018, 17 ff. Hierzu auch Friehe , JURA 2017, 852 ff (Hausarbeit zum Hausrecht des Bundestagspräsidenten).
[26]
Degenhart , Rn 517 ff.
[27]
Erbguth/Guckelberger , Rn 9. Beispiel bei BVerfG, NVwZ 2008, 183, 186 (Hartz IV-Arbeitsgemeinschaften).
[28]
Kingreen/Poscher , Rn 330 ff.
[29]
Degenhart , Rn 305 ff.
[30]
Grundlegend Werner , DVBl. 1959, 527 ff.
[31]
Siegel , Europäisierung des Öffentlichen Rechts, 2012, Rn 5 und 8.
[32]
Streinz , Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn 133 ff.
[33]
Zu den Begriffen Siegel , Europäisierung des Öffentlichen Rechts, 2012, Rn 12 und 14. Hinzu kommt das – an dieser Stelle zu vernachlässigende – Tertiärrecht; hierzu Streinz , Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn 4.
[34]
Zu diesen Grundsätzen Siegel , Europäisierung des Öffentlichen Rechts, 2012, Rn 18-23.
[35]
Hierzu jüngst Fromberger/Schmidt , ZJS 2018, 29 ff.
[36]
Dort gilt zumindest grundsätzlich das Nichtigkeitsdogma, das Gesetz ist also ungültig; hierzu Gröpl , Rn 447.
[37]
Zu diesen Grundsätzen Siegel , Europäisierung des Öffentlichen Rechts, 2012, Rn 37 ff.
[38]
Übersicht bei Ipsen , Rn 56 ff.
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