d) Grundsätze bei der Anwendung des Unionsrechts
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Werden die zuvor aufgezeigten Grundsätze beachtet und auch sonstiges primäres Unionsrecht eingehalten, so genießt das Sekundärrecht der Union – ebenso wie das Primärecht – einen Anwendungsvorranggegenüber etwaig widersprechenden Regelungen des nationalen Rechts[35]. Die betreffende Regelung des nationalen Rechts wird also – anders als grundsätzlich beim Verstoß eines Gesetzes gegen das Grundgesetz[36] – nicht ungültig, bleibt aber unanwendbar. Seine rechtsdogmatisch konsequente Fortentwicklung findet der Anwendungsvorrang im Äquivalenzprinzip und im Effektivitätsprinzip: Nach dem eher unproblematischen Äquivalenzprinzipdürfen unionsrechtlich begründete oder angereicherte Sachverhalte nicht ungünstiger als rein innerstaatlich begründete Sachverhalte behandelt werden. Das – in der Praxis sehr bedeutsame – Effektivitätsprinzipbesagt, dass das Unionsrecht bei der Anwendung nicht praktisch unmöglich oder erheblich erschwert werden darf. Anders ausgedrückt, das Unionsrecht muss auch möglichst wirksam angewendet werden. Seine Abrundung findet der Anwendungsvorrang schließlich im Gebot unionsrechtskonformer Auslegung: Belässt das innerstaatliche Recht entsprechende Spielräume, so ist in solchen Konstellationen diejenige Auslegung vorzuziehen, die in Einklang mit dem Unionsrecht steht[37].
Teil I Grundlagen› § 3 Verortung des Verwaltungsrechts in der Rechtsordnung› IV. Bedeutsame Einteilungen des Verwaltungsrechts
IV. Bedeutsame Einteilungen des Verwaltungsrechts
1. Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht
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Die Einleitung erwähnte bereits die Unterscheidung zwischen dem „Allgemeinen“ und dem „Besonderen“ Verwaltungsrecht (s.o. Rn 3). Diese Differenzierung ist bereits bekannt aus dem BGB und dem StGB. Sie kennzeichnet auch das Verwaltungsrecht. Der Unterschied zwischen dem Verwaltungsrecht auf der einen und dem BGB/StGB auf der anderen Seite besteht darin, dass das „Allgemeine“ und das „Besondere“ Verwaltungsrecht nicht weitgehend in einer Gesamtkodifikation zusammengefasstsind, sondern dass sich diese Materien in einer Vielzahl von Gesetzen zerstreut geregelt wiederfinden. Die Arbeitserleichterung, die eine Gesamtkodifikation ermöglicht, fehlt im Verwaltungsrecht. Für Teilbereiche des Verwaltungsrechts, insbes. für das das Umweltrecht, wurde mehrfach an Teilkodifikationen gearbeitet. Eine Gesamtkodifikation des gesamten Verwaltungsrechts ist aber wohl nicht vorstellbar: Zu unterschiedlich sind die zu regelnden Gegenstände, zu groß ist die Normenmenge, ferner sind die auf Bund und Länder verteilten Gesetzgebungskompetenzen einer einheitlichen Kodifikation hinderlich.
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Dem Allgemeinen Verwaltungsrechtwerden diejenigen Aussagen des Verwaltungsrechts zugeordnet, die prinzipiell für alle Bereiche des Verwaltungsrechtsgelten. Diese Aussagen betreffen im Wesentlichen das für eine Entscheidungsfindung zu beachtende Verfahren, die Form, in der eine Verwaltungsentscheidung ergehen kann (Handlungsformenlehre), sowie die Kontrolle und den Vollzug von Verwaltungsentscheidungen. Das Besondere Verwaltungsrechtenthält das Recht zur Lösung der der Verwaltung übertragenen Probleme in besonderen Sachbereichen[38]. Diese Sachbereiche sind mannigfaltig. Dieses spiegeln die Gesetze, die Besonderes Verwaltungsrecht enthalten, wider: Sie reichen – wie die alphabetische Schnellübersicht des Sa. I demonstriert – vom Abfallrecht über das Hochschulrecht bis hin zum Waffen- und Zivilschutzrecht.
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Im Hinblick auf die Examensrelevanzgilt: Das Allgemeine Verwaltungsrecht muss beherrscht werden, dabei will dieses Buch helfen; das Besondere Verwaltungsrecht muss hingegen lediglich in wenigen Teilbereichen bekannt sein: das Allgemeine Recht der Gefahrenabwehr und Teile des Baurechts sowie im Überblick das Kommunalrecht[39].
2. Außenrecht und Innenrecht
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Eine weitere für das Recht der Verwaltung bedeutsame Differenzierung betrifft die Unterscheidung von Außenrecht und Innenrecht. Sie ist an den verschiedenen Adressatendes Verwaltungsrechts orientiert. Das Außenrecht erfasst diejenigen Rechtsnormen, welche die Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat auf der einen Seite und den Bürgern bzw sonstigen Rechtspersonen auf der anderen Seite regeln. Das Verwaltungsrecht ist in seinen wesentlichen Teilen Außenrecht; die Rechtsbeziehungen zwischen dem Bürger und dem Staat bilden seinen Schwerpunkt. Das Innenrecht wird auch als intra personales Recht, das Außenrecht als inter personales Recht bezeichnet.
Beispiele:
Das Polizeirecht regelt die Pflicht des Bürgers zur Gefahrenvermeidung und zur Gefahrenbeseitigung, die „Polizei“ kann diese Bürgerpflichten durchsetzen. Das Umweltrecht regelt, dass der Bürger umweltschädliche Handlungen (in gewissem Umfang) zu unterlassen hat, die zuständige Behörde kann diese Pflicht durchsetzen.
Teil I Grundlagen› § 3 Verortung des Verwaltungsrechts in der Rechtsordnung› V. Die Relevanz des Privatrechts im Verwaltungsrecht
V. Die Relevanz des Privatrechts im Verwaltungsrecht
1. Lückenfüllung im öffentlichen Recht durch Anwendung des Privatrechts
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Das gesetzlich normierte öffentliche Recht ist inhaltlich nicht vollständig. Ungeregelt ist zB bislang die Anfechtung von Willenserklärungen; dieser Mangel ist bedeutsam, weil auch im öffentlichen Recht mit Hilfe der Handlungsform „Vertrag“ gearbeitet wird. Wenn einschlägige öffentlich-rechtliche Aussagen fehlen, bietet es sich an, auf vorhandene privatrechtliche Aussagen zurückzugreifen. Geschieht dieser Rückgriff, so handelt die Verwaltung allerdings nicht privatrechtlich, sondern sie verbleibt im öffentlichen Recht, indem sie Privatrecht als öffentliches Recht anwendet; das Privatrecht erhält in diesen Fällen also die Qualität von öffentlichem Recht.
Beispiele:
Der Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB – Verwirkung als Teil dieses Grundsatzes[40]
; die Vorschriften über die Fristberechnung nach §§ 187 ff BGB[41]
; die Vorschriften über die Anfechtung von Willenserklärungen nach §§ 119, 123 Abs. 1 BGB, über die Haftung wegen schuldrechtlicher Leistungsstörungen nach §§ 276 ff BGB, über die Verwahrung, über die Geschäftsführung ohne Auftrag, über die Auslobung.
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Vorschriften des BGB gelangen im öffentlichen Recht zunächst dann zur Anwendung, wenn das öffentliche Recht selbst diese Vorschriften für anwendbar erklärt. Hingewiesen sei auf § 62 S. 2: Für den örV gelten die Vorschriften des BGB entsprechend (dazu Rn 719)[42]. Wenn es an einer das Recht des BGB für anwendbar erklärenden Norm fehlt, gibt es zwei Möglichkeiten, die Verwendung privatrechtlicher Normen zu begründen: Zum einen lässt sich sagen, bestimmte Aussagen des Privatrechts seien Allgemeine Rechtsgrundsätze, die zwar das Privatrecht konkretisiert habe, die aber im gesamten Recht gelten, sodass sie auch im öffentlichen Recht unmittelbar zur Anwendung gelangen. Zum anderen wendet man bestimmte privatrechtliche Vorschriftenim öffentlichen Recht analogan. Von der Zulässigkeit dieses Vorgehens ist bei der Erfüllung zweier Voraussetzungen auszugehen: (1)Es muss eine planwidrige Lücke vorliegen. (2)Die Sachverhalte müssen in rechtlich wertender Hinsicht vergleichbar sein.
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