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Die Abgrenzung des öffentlichen Rechts vom Privatrecht ist seit der Unterscheidung des Rechts in diese Teilbereiche streitbefangen. Eine Vielzahl sog. „Abgrenzungstheorien“ wurde entwickelt. Aus der Vielzahl der Abgrenzungstheorien haben drei „überlebt“. Sie sind in der Rechtspraxis die wichtigsten[4]. Ihre Wichtigkeit bedingt der Umstand, dass sie die höchste Abgrenzungsleistung zu erbringen vermögen. Die drei Theorien sind die Interessentheorie, die Subordinationstheorie und die Sonderrechtstheorie, welche teilweise auch als Zuordnungstheorie oder als modifizierte Subjektstheorie bezeichnet wird.
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Die Interessentheorie differenziert nach dem im Rechtssatz verkörperten Interesse. Öffentliches Recht sind deshalb die dem öffentlichen Interesse, Privatrecht die dem Individualinteresse verpflichteten Rechtssätze. Diese Theorie geht auf den römischen Juristen Ulpian zurück: publicum jus est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem. Der Einwand gegen diese Theorie beruht auf ihrer mangelnden Trennschärfe: Es gibt eine Vielzahl von Normen, die sowohl dem öffentlichen als auch dem privaten Interesse dienen. Ferner kann zwischen öffentlichem Interesse und privatem Interesse nicht immer trennscharf unterschieden werden. Die Richtigkeit dieser Aussage zeigt der berühmte Satz von Henry Ford: Was gut für Ford ist, ist gut für Amerika.
Beispiel:
Eine steuerrechtliche Norm (eindeutig öffentliches Recht), die den privaten Wohnungsbau durch Steuerverschonung fördert, dient sowohl dem privaten Interesse (der Begünstigte entrichtet weniger Steuern) als auch dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung von Obdachlosigkeit.
b) Die Subordinationstheorie
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Die Subordinationstheorie, auch Über-Unterordnungstheorie oder Subjektionstheorie genannt, nimmt das Rangverhältnis der in einer Rechtsbeziehung zueinander Stehenden in den Blick. Öffentliches Recht ist gegeben, wenn die Rechtsbeziehung der an dem Rechtsverhältnis Beteiligten durch ein Über-Unterordnungsverhältnisgekennzeichnet ist, Privatrecht liegt vor, wenn Gleichordnung die Rechtsbeziehung charakterisiert. Die Einwände gegen diese Lehre liegen ebenfalls auf der Hand: Es gibt auch im öffentlichen Recht Gleichordnungsverhältnisse (zB verwaltungsrechtlicher Vertrag zwischen Hoheitsträgern); ferner existieren im Privatrecht Über- und Unterordnungsverhältnisse (Eltern-Kind-Verhältnis, arbeitsrechtliches Direktionsrecht). Schließlich vermag diese Theorie die Einordnung der Leistungsverwaltung nicht stimmig zu erklären; diese beruht gerade auf dem Verzicht von Über- und Unterordnung. Endlich ist die Subjektion Folge der Geltung des öffentlichen Rechts; die Subordinationstheorie basiert also auf einer Verkennung von Ursache und Wirkung.
c) Die Sonderrechtstheorie
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Die inzwischen von der h.A. vertretene Sonderrechtstheorie, die teilweise auch modifizierte Subjektstheorie oder Zuordnungstheoriegenannt wird, differenziert danach, wer auf Grund welchen Rechts handelt[5]. Zum öffentlichen Recht zählen diejenigen Rechtssätze, deren ausschließliches Zuordnungssubjekt zumindest auf einer Seite der Staat oder ein sonstiger Träger hoheitlicher Gewalt ist. Öffentliches Recht ist danach das Sonderrecht des Staates, Privatrecht „Jedermanns-Recht“. Diese Theorie wurde 1950 von H.J. Wolff begründet[6] und hat im Anschluss eine Modifikation erfahren (deshalb „modifizierte Subjektstheorie“)[7]. Maßgebend ist danach, ob die Rechtsnorm einen Hoheitsträger als solchenals Zuordnungssubjekt kennt, das heißt einen Hoheitsträger gerade in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt berechtigt oder verpflichtet. Ein immer wieder herausgestelltes
Beispiel:
Das in § 928 Abs. 2 BGB geregelte Aneignungsrecht des Staats ist nach Wolff öffentliches Recht, weil es allein den Staat berechtigt. Nach Bettermann und Bachof ist es ein privates Recht, weil nicht der Staat als Hoheitsträger, sondern als Teilnehmer am bürgerlich-rechtlichen Rechtsverkehr Anspruchsinhaber ist.
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Das entscheidende Kriteriumist die „hoheitliche Gewalt“[8]. Indem dieses – rein formale – Kriterium den Mittelpunkt der Betrachtung bildet, wird den unterschiedlichen Funktionen des öffentlichen Rechts und des Privatrechts Rechnung getragen: Öffentliches Recht dient der Begründung und Begrenzung staatlicher Befugnisse gegenüber dem Einzelnen und berechtigt und verpflichtet den Staat, die Befugnisse gegenüber dem Einzelnen einseitig durchzusetzen – das Privatrecht setzt die Privatautonomie des Einzelnen voraus und stellt Regelungen bereit, mit deren Hilfe Interessenkonflikte zwischen Privaten gelöst werden. – Auch gegen die modifizierte Subjektstheorie liegt der Einwand gegen ihre Brauchbarkeit auf der Hand. Sie ist zirkelschlüssig: Wer auf Grund öffentlichen Rechts handelt, handelt mit „hoheitlicher Gewalt“, wozu ihn das öffentliche Recht berechtigt; wann öffentliches Recht vorliegt, soll sich aber danach bestimmen, wann jemand mit „hoheitlicher Gewalt“ handelt. Damit wird das zu Bestimmende Bedingung für die Möglichkeit der Bestimmung.
3. Sonderfall: Die Zwei-Stufen-Theorie
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Grundsätzlich muss eine Handlung, ein Rechtsverhältnis oder eine Rechtsstreitigkeit entweder dem öffentlichen Recht oder dem Privatrecht zugeordnet werden. Die gleichzeitige Zuordnung zu beiden Rechtsordnungen scheidet also aus. Sind sowohl privatrechtliche als auch öffentlich-rechtliche Elemente vorhanden, so muss in solchen „Gemengelagen“mittels der Abgrenzungstheorien eine Zuordnung erfolgen (s.o. Rn 31 ff). In bestimmten Konstellationen können allerdings zwei Entscheidungsstufen aufeinanderfolgen. Die damit umschriebene Zwei-Stufen-Theorie ist ursprünglich für die Vergabe von Subventionen entwickelt worden, zu denen etwa ein zinsgünstiges Darlehen gehört[9]. Darüber hinaus kommt die Zwei-Stufen-Theorie auch bei der Nutzung öffentlicher Einrichtungen nach dem Kommunalrecht zur Anwendung; zu diesen zählen etwa gemeindliche Schwimmbäder oder Bibliotheken[10]. Bei der Zwei-Stufen-Theorie wird auf der ersten Stufe über das „Ob“ entschieden, also darüber, ob eine Subvention vergeben oder der Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung gewährt wird. Diese erste Stufe ist dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Die zweite Stufe hat demgegenüber das „Wie“ zum Gegenstand: Auf dieser Stufe werden etwa die Auszahlungs- oder Rückzahlungsmodalitäten einer Subvention geregelt oder die Verhaltenspflichten bei der Nutzung einer öffentlichen Einrichtung. Diese zweite Stufe kann entweder dem öffentlichen Recht oder dem Wahlrecht zuzuordnen sein. Die Zwei-Stufen-Theorie wird ausführlicher im Abschnitt über das privatrechtliche Handeln der Verwaltung dargestellt (s.u. § 23 II.).
4. Bewertung und Hinweise für die Lösung von Fällen
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Nach alldem vermag keine der „Abgrenzungstheorien“ vollends überzeugende Abgrenzungskriterien zu liefern (s.o. Rn 31 ff). Weitgehend ist man der Auffassung, im Einzelfall alle drei Theorien zu beachten und je nach Eignung anzuwenden[11]
. Rechtsdogmatisch ist dieses Ergebnis unbefriedigend. Die Praxis betrachtet den Wert der Abgrenzungstheorien zudem als gering. Die Rechtsanwender wissen, ob eine Norm dem öffentlichen Recht oder dem Privatrecht angehört. Praktisch bereitet deshalb weniger die Qualifizierung der Rechtssätze denn die Zuordnung eines Lebenssachverhalts zu bestimmten Rechtsnormen Schwierigkeiten. „Der Unterschied zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht ist für die Praxis kein Qualifikationsproblem, sondern ein Zuordnungsproblem“[12].
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