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BVerwG, NJW 2006, 3225, 3226.
Teil IV Recht der öffentlichen Ersatzleistungen› § 27 Der Amtshaftungsanspruch
§ 27 Der Amtshaftungsanspruch
Inhaltsverzeichnis
I. Bedeutung
II. Entwicklung
III. Systematik
IV. Tatbestandsmerkmale
V. Haftungsausschlüsse und Haftungsbeschränkungen
VI. Umfang des Anspruchs
VII. Anspruchskonkurrenzen
VIII. Durchsetzung des Anspruchs
IX. Aufbauschema Amtshaftungsanspruch
X. Anhang 1: Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch
XI. Anhang 2: Staatshaftungsgesetze der neuen Bundesländer
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Fall 28:
U will auf seinem Gewerbegrundstück eine Lagerhalle errichten lassen. Der von U beauftragte Architekt A erstellt die Konstruktionsunterlagen und reicht sie der zuständigen Baugenehmigungsbehörde des Landkreises L ein. Diese überprüft die Bauunterlagen und erteilt U die Baugenehmigung. Nach Fertigstellung der Halle stürzt sie ein, weil sich herausstellt, dass A die Seitenwände statisch falsch berechnet hat. Der an der Baustelle vorbeigehende P wird durch den Einsturz verletzt. Dem privat krankenversicherten P entstehen Kosten für ärztliche Behandlung in Höhe von 3.400 €. U und A sind vermögenslos. P verlangt Ersatz der Arztkosten von L, weil die Behörde die Bauerlaubnis wegen der fehlerhaften Berechnungen nicht hätte erteilen dürfen. Hat P einen Anspruch gegen den Landkreis L? Rn 981
Teil IV Recht der öffentlichen Ersatzleistungen› § 27 Der Amtshaftungsanspruch› I. Bedeutung
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Der Amtshaftungsanspruch findet seine rechtlichen Grundlagen in Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGBund bildet den zentralen Anspruch im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen[1]. Er zielt im Ausgangspunkt auf eine Naturalrestitution ab und ist daher den Sekundäransprüchenzuzurechnen (s.o. Rn 894). Da eine solche Naturalrestitution in vielen Fällen aber nicht möglich oder ausreichend ist, führt er regelmäßig zu einer Geldzahlung (dazu ausf. Rn 972)[2]. Er ist gemäß § 839 Abs. 3 BGB nachrangig gegenüber möglichen und zumutbaren Primäransprüchen, soweit mit diesen die Entstehung eines Schadens hätte abgewendet werden können (dazu ausf. Rn 969 ff). Sonstige Entschädigungsansprüche können hingegen regelmäßig neben dem Amtshaftungsanspruch geltend gemacht werden, insbes. solche aus enteignungsgleichem Eingriff und rechtswidriger Aufopferung (dazu Rn 975sowie in 1038).
Teil IV Recht der öffentlichen Ersatzleistungen› § 27 Der Amtshaftungsanspruch› II. Entwicklung
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In der Literatur werden mit Blick auf die Haftung des Staats für rechtswidriges und schuldhaftes Handeln üblicherweise vier Haftungsmodelleunterschieden:
(1) |
Es haftet nur der Amtswalter für sein Fehlverhalten (Beamtenhaftung, Eigenhaftung, persönliche Haftung). |
(2) |
Ausschließlich der Staat ist Haftungsschuldner. Das Handeln des Amtswalters wird ihm unmittelbar als eigenes Handeln zugerechnet (unmittelbare/originäre Staatshaftung = Eigenhaftung des Staats). |
(3) |
Beide, Amtswalter und Staat, haften nebeneinander (kumulative Haftung). |
(4) |
Der Amtswalter haftet, die Schuld wird aber vom Staat mit befreiender Wirkung für den Amtswalter übernommen (mittelbare/derivative Staatshaftung, Amtshaftung = Fremdhaftung des Staats). |
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Die unter (4)erwähnte Amtshaftung ist eine merkwürdige Kombination aus Beamten- und Staatshaftung. Die Haftung trifft für eine logische Sekunde den Amtswalter selbst und wird anschließend auf den Staat übergeleitet. Es handelt sich daher nicht um eine unmittelbare Staatshaftung. Das Fehlverhalten des Amtswalters gilt nicht als staatliches Fehlverhalten; lediglich die Schuld wird vom Staat übernommen. Die Amtshaftung ist deshalb eine nur mittelbare oder derivative Staatshaftung. Diese rechtliche Konstruktion der Amtshaftung muss bei der Prüfung eines Amtshaftungsanspruchs immer gegenwärtig sein, weil sie Konsequenzen für den geltend gemachten Anspruch hat. Sowohl die Voraussetzungen (Verschulden des Amtswalters ist erforderlich) als auch der Inhalt des Anspruchs (im Regelfall nur Geldersatz und keine Naturalrestitution) werden von dieser Konstruktion beeinflusst.
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Der im Gegensatz zu den oben (1)bis (3)aufgezählten Haftungsmodellen recht eigentümliche Haftungstyp „Amtshaftung“ ist nur aus seiner geschichtlichen Entwicklung heraus verständlich: Im 18. und 19. Jahrhundert herrschte die Auffassung vor, der Staat sei unrechtsunfähig. Handelte ein Beamter rechtswidrig, so hielt er sich nicht an seinen staatlichen Auftrag zu rechtmäßigem Handeln. Folge war, dass das rechtswidrige Verhalten dem Beamten persönlich zugerechnet wurde und deshalb auch keine Staatshaftung, sondern seine persönliche Haftung nach allgemeinem Privatrecht den Schaden eines Betroffenen ausglich[3].
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Diese Lehre griff das BGB auf, das am 1.1.1900 in Kraft trat. § 839 BGB regelte die Eigenhaftung des Beamten. Allerdings unterteilte die Rechtswissenschaft zu diesem Zeitpunkt das staatliche Handeln bereits in fiskalisches (privatrechtliches) und hoheitliches Handeln. Im fiskalischen Bereich galt der Staat als „Privatmann“. Wegen dieser Fiktion bejahte man eine Haftung des Staats bei privatrechtlichem Handeln. Ferner war in der Zwischenzeit die Forderung nach einer Haftung des Staats für hoheitliches Handeln ebenfalls laut geworden. Hinter dieser Forderung standen folgende, auch heute noch Geltung beanspruchende Gründe: Zum einen sollte der Geschädigte immer einen leistungsfähigen Schuldner erhalten, zum anderen sollte vermieden werden, dass die Entschlussfreudigkeit der Beamten durch das Haftungsrisiko beeinträchtigt wird.
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Der Reichsgesetzgeber sah sich jedoch mangels Gesetzgebungskompetenz nicht in der Lage, eine allgemeine Staatshaftung im hoheitlichen Bereich einzuführen[4]. Art. 77 EGBGB überließ die Regelung einer Staatshaftung den Einzelstaaten. Soweit diese in der Folgezeit eine Staatshaftung normierten, sahen sie auf Grund der immer noch virulenten Vorstellung von der Unrechtsfähigkeit des Staats im hoheitlichen Bereich eine Ersatzkonstruktion in Form einer Haftungsüberleitungauf den Staat vor. Dieses Modell der Amtshaftung übernahmen Art. 131 in die Weimarer Reichsverfassung und Art. 34, der gegenüber Art. 131 WRV keine inhaltlichen Änderungen aufweist, in das Grundgesetz. Damit ist die Amtshaftung als Haftungstyp auch heute etabliert[5]
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Teil IV Recht der öffentlichen Ersatzleistungen› § 27 Der Amtshaftungsanspruch› III. Systematik
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Rechtsgrundlage des Amtshaftungsanspruchs ist Art. 34 S. 1 GG i.V.m. § 839 BGB. Wie ausgeführt, leitet Art. 34 S. 1 GG die zunächst den Beamten nach § 839 BGB treffende Haftung für den eingetretenen Schaden („Verantwortlichkeit“ iSd Art. 34 S. 1 GG) auf den Staat über[6]. Art. 34 S. 1 GG ist daher nicht Anspruchsnorm, sondern Zurechnungsnorm[7]
, die allerdings die Anspruchsvoraussetzungen modifiziert. Beide Vorschriften bilden eine einheitliche Anspruchsgrundlage und sind deshalb zusammen zu prüfen. Art. 34 S. 1 GG normiert eine den Beamten befreiende Schuldübernahme. § 839 BGB enthält zudem einige Ausschlussgründe, nämlich die Subsidiaritätsklauselnach Abs. 1 S. 2, das Spruchrichterprivilegnach Abs. 2 S. 1 sowie den Ausschluss wegen Rechtsmittelversäumnisnach Abs. 3. Diese sollten den nach der ursprünglichen Konzeption persönlich haftenden Beamten entlasten; sie kommen aber nach der Haftungsüberleitung zumindest grundsätzlich mittelbar auch dem Staat zugute[8].
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