893
Diese Ansprüche werden von zwei Grundgedanken geprägt: Die erste Gruppe wird bestimmt vom Gedanken einer Wiederherstellung oder Erzielung der Rechtmäßigkeit. Zu ihr gehört insbes. der Folgenbeseitigungsanspruch, mit dem die Folgen rechtswidrigen staatlichen Handelns rückgängig gemacht werden sollen (s.u. § 25). Eng mit ihm verwandt ist der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch, der die Unterlassung rechtswidrigen staatlichen Handelns zum Ziel hat (s.u. Rn 909 ff). Aber auch der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch verfolgt einen ähnlichen Gedanken, indem rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen rückgängig gemacht werden sollen (s.u. § 26). Da diese Ansprüche allesamt darauf abzielen, einen in Einklang mit der Rechtsordnung befindlichen Zustand zu erreichen, ergänzen sie die klassischen Möglichkeiten zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit und können daher auch als Primäransprüchebezeichnet werden[2].
894
Im Gegensatz dazu sind Sekundäransprücheauf die nachträgliche Geltendmachung von Schadensersatz oder Entschädigungsleistungen ausgerichtet. Zu ihnen gehört insbes. der Amtshaftungsanspruch (s.u. § 27). Hinzu kommen Entschädigungsansprüche wegen Eigentumsbeeinträchtigungen oder sonstiger Aufopferung für das Gemeinwohl (s.u. § 28). Vor dem Hintergrund der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (s.o. Rn 181f) ist allerdings die Wahrung oder Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit der (Verwaltungs-)Rechtsordnung vorrangig. Daraus folgt ein grundsätzlicher Vorrang des Primärrechtsschutzesgegenüber dem Sekundärrechtsschutz[3], der in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG auch verfassungsrechtlich verankert ist[4]. Besonders deutlich zum Ausdruck kommt dieser Vorrang in der Bestimmung des § 839 Abs. 3 BGB: Danach tritt die Ersatzpflicht nach dem Amtshaftungsanspruch nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden (dazu Rn 969f).
895
Eine Systematisierung dieser diversen Anspruchsgrundlagen ist bislang nicht gelungen[5]. Dies wird zu Recht kritisiert[6]. Dem daher begrüßenswerten Anliegen des Bundesgesetzgebers im Jahre 1981, ein einheitliches Staatshaftungsgesetzdes Bundes einzuführen, hat das BVerfG jedoch eine Absage erteilt; denn zum damaligen Zeitpunkt fehlte dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für ein solches Regelwerk[7]. In Reaktion darauf wurde im Jahre 1994 dem Bund in Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG ausdrücklich die Gesetzgebungskompetenz für den Bereich der Staatshaftung zuerkannt. Von dieser Kompetenz hat der Bund jedoch bislang keinen Gebrauch gemacht.
Ausbildungsliteratur:
Kratzlmeier , Die Systematik des Staatshaftungsrechts, JURA 2018, 1239; Lege , System des deutschen Staatshaftungsrechts, JA 2016, 81.
[1]
Zur Terminologie Lege , JA 2016, 81.
[2]
In der Sache ähnlich Maurer/Waldhoff , § 25 Rn 2, die von einer „Vorordnung“ dieser Ansprüche gegenüber den Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen sprechen.
[3]
Baldus , in: Baldus/Grzeszick/Wienhues, Rn 2.
[4]
Hierzu Siegel , DÖV 2007, 239 ff.
[5]
Überblick über die Systematik bei Lege , JA 2016, 81 ff; Kratzlmeier , JURA 2018, 1239 ff.
[6]
Deutlich Grzeszick , ZPR 2015, 162, der von einem „unsystematischen, intransparenten und inkohärenten Sammelsurium“ spricht.
[7]
BVerfGE 61, 149 ff.
Teil IV Recht der öffentlichen Ersatzleistungen› § 25 Der Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch
§ 25 Der Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch
Inhaltsverzeichnis
I. Bedeutung
II. Rechtsgrundlagen
III. Die Tatbestandsmerkmale des Folgenbeseitigungsanspruchs
IV. Ausschluss des Folgenbeseitigungsanspruchs
V. Umfang des Folgenbeseitigungsanspruchs
VI. Durchsetzung des Folgenbeseitigungsanspruchs
VII. Der Unterlassungsanspruch
896
Fall 26:
Der Träger der Straßenbaulast ist nach § 18f BFStrG vorzeitig in den Besitz eines des A gehörenden Stücks Lands eingewiesen worden, um eine Fernstraße zu erweitern. Bedienstete des Trägers der Straßenbaulast reißen einen Zaun ab und schieben den Mutterboden vom zukünftigen Straßenland. Das Verwaltungsgericht erklärt die vorzeitige Besitzeinweisung für rechtswidrig und später auch den Planfeststellungsbeschluss zur Verbreiterung der Straße. A fordert, dass der Mutterboden an seinen Ursprungsort zurückgeschoben und der Zaun neu gebaut wird. Mit Recht? Rn 912
Teil IV Recht der öffentlichen Ersatzleistungen› § 25 Der Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch› I. Bedeutung
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Der Folgenbeseitigungsanspruch (im Folgenden FBA) ist der Gruppe der Primäransprüchezuzurechnen (s.o. Rn 893). Er ist im Unterschied zu Entschädigungs- und Schadensersatzansprüchen nicht auf eine Geldleistung ausgerichtet, sondern auf die Wiederherstellung eines rechtmäßigen Zustands, der vor einem rechtswidrigen Eingriff in subjektive Rechte bestand[1]. Von der bereits aus dem Privatrecht bekannten Naturalrestitution unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht den hypothetischen Zustand, der ohne den rechtswidrigen Eingriff bestünde, zum Ziel hat, sondern den tatsächlichen Zustand, der vor diesem Eingriff bestand (sog. „status quo ante“)[2]. Deshalb bleiben Entwicklungsmöglichkeiten, die erst nach dem Eingriff entstehen können, unberücksichtigt.
Beispiele:
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Rückgängigmachung der Einbeziehung eines Grundstücksstreifens in die Straßenverbreiterung[3]; |
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Wiederherstellung eines Netzanschlusses[4]; |
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Rückgängigmachung der ehrverletzenden Äußerungen eines Beamten[5]; |
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Rückgängigmachung einer Abschiebung[6]; |
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Unterbringung von Flüchtlingen in Privatunterkünften[7]; |
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Löschung einer Äußerung im Facebook-Account eines Bürgermeisters[8]; |
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Löschung rechtswidrig erhobener Daten[9]. |
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Die Beispiele belegen, dass oftmals die Folgen rechtswidriger Realakteerfasst werden. Ein FBA kann aber auch dann bestehen, wenn die rechtswidrigen Folgen aus dem Vollzug eines VA rückgängig gemacht werden sollen. Dieser besondere FBA wird in § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO vorausgesetzt. Danach kann bei einer erfolgreichen Anfechtungsklage das Gericht auf Antrag auch aussprechen, dass die Vollziehung des VA rückgängig zu machen ist[10]. In dieser besonderen Konstellation wird der FBA als Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchbezeichnet[11]. Zur Verdeutlichung dieses Unterschiedes sollte beim FBA im Zusammenhang mit Realakten vom allgemeinen FBA gesprochen werden[12]. In einem so verstandenen Sinn werden auch Situationen erfasst, in denen der Eingriff noch nicht stattgefunden hat, aber unmittelbar bevorsteht. Dann handelt es sich um einen Unterlassungsanspruch(dazu ausführlicher Rn 909 ff)[13].
Teil IV Recht der öffentlichen Ersatzleistungen› § 25 Der Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch› II. Rechtsgrundlagen
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Der (Vollzugs)FBA wird in § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO nicht geregelt, sondern nur vorausgesetzt. Allerdings hat der FBA teilweise spezialgesetzliche Ausprägungenerhalten[14]. Insbes. enthalten die Polizeigesetze Bestimmungen zur Rückgabe sichergestellter Sachen nach Wegfall der Voraussetzungen für die Sicherstellung[15]. Das Gleiche gilt für den Anspruch auf Datenlöschung nach Art. 17 DSGVO[16]. Wegen der offensichtlichen Parallelen zu den privatrechtlichen Bestimmungen der §§ 1004, 862, 12 BGB käme im Übrigen zwar eine analoge Anwendung dieser Bestimmungen in Betracht. Es ist jedoch anerkannt, dass es sich beim FBA um ein eigenständiges Institut des öffentlichen Rechts handelt. Da der Anspruch auf die Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände gerichtet ist, bildet der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltungdas zentrale Begründungselement[17], beim FBA eines Bürgers ergänzt durch die Grundrechte[18]
. Unabhängig von der dogmatischen Begründung hat der FBA inzwischen eine gewohnheitsrechtliche Verfestigung erlangt[19].
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