Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 22 Verwaltungsvorschriften› II. Erscheinungsformen
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Verwaltungsvorschriften sind in Prüfungsarbeiten nur begrenzt relevant (dazu insbes. Rn 867), haben jedoch in der Verwaltungspraxis eine ausgesprochen große Bedeutung. Denn sie prägen einerseits das staatliche Binnenrecht durch Vorgaben für die Organisation und das Verfahren, steuern andererseits das Verwaltungshandeln nach außen. Dabei ist in der Praxis eine terminologische Vielfaltanzutreffen: Verwaltungsvorschriften werden teilweise auch als Erlass, Verfügung, Dienstanweisung, Ausführungsbestimmung, Richtlinie oder Anleitung bezeichnet. Kategorisiert man sie, so können sie in Organisations-, Verfahrens- und Dienstvorschriften sowie in entscheidungslenkenden Verwaltungsvorschriften eingeteilt werden. Bei Letzteren ist wiederum zwischen gesetzesinterpretierenden, normkonkretisierenden, ermessenslenkenden sowie gesetzesvertretenden Verwaltungsvorschriften zu unterscheiden[2].
1. Organisations-, Verfahrens- und Dienstvorschriften
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Organisations-, Verfahrens- und Dienstvorschriften betreffen die innere Organisation, die internen Dienstabläufe (zB Bearbeitungsfristen), die Dienstzeit oder Ähnliches. Im parlamentarischen Bereich werden solche den inneren Ablauf steuernden Regelungen oftmals als Geschäftsordnungen bezeichnet.
2. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften
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Demgegenüber beziehen sich norminterpretierende Verwaltungsvorschriften auf die Steuerung des Verwaltungshandelns. Hier kann die Anwendung unbestimmter RechtsbegriffeUnsicherheiten hervorrufen. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften zielen auf eine einheitliche Interpretationdieser unbestimmten Rechtsbegriffe ab.
Beispiel:
die Interpretation der Begriffe der Gefahr und der öffentlichen Sicherheit durch die Verwaltungsvorschrift des Landes Brandenburg zum OBG Brandenburg[3].
Bezugspunkte norminterpretierender Verwaltungsvorschriften sind unbestimmte Rechtsbegriffe ohne Beurteilungsspielraum. Nach dem zum Beurteilungsspielraum Gesagten ist im Regelfall bei unbestimmten Rechtsbegriffen kein Beurteilungsspielraum anzuerkennen (s.o. Rn 196).
3. Gesetzes-/normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften
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Auch normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften setzen bei unbestimmten Rechtsbegriffen auf der Tatbestandsseite an. Im Unterschied zu norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften (s.o. Rn 858) beziehen sie sich jedoch auf unbestimmte Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum. Klassische Beispiele für normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften bilden die Technische Anweisung Lärm ( TA Lärm) und die Technische Anweisung Luft ( TA Luft). Sie konkretisieren den Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen“ im Sinne des anlagenbezogenen Immissionsschutzrechts, indem sie bestimmte Lärmgrenzwerte in Form von Dezibelangaben und bestimmte Schadstoffgrenzwerte in Form von Konzentrationsangaben vorgeben. Begründet wurde dieser abstrakt-generelle Beurteilungsspielraum damit, dass die zugrundeliegende Norm des § 48 BImSchG einen gesetzgeberischen Konkretisierungsauftrag enthalte[4]. Darin wird zugleich deutlich, dass eine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift im Vergleich zur norminterpretierenden die Ausnahme bildet. Im Gegensatz dazu hat etwa das OVG Berlin-Brandenburg der Bestimmung des § 14 LImSchG Bln keine entsprechende normative Ermächtigung entnommen und die darauf gestützte Ausführungsvorschrift des Landes Berlin nicht als normkonkretisierend anerkannt[5].
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Aus dem Wesen der TA Lärm und der TA Luft ist abzuleiten, dass die dort normierten Grenzwerte grundsätzlich für Verwaltung und Gerichte verbindlichsind. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn eine atypische Fallgestaltung vorliegt oder nachgewiesen wird, dass ein normierter Grenzwert überholt ist[6]. Wegen der grundsätzlich auch im Verhältnis zum Bürger verbindlichen Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe entfalten normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften insoweit unmittelbare Außenwirkung.
4. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften
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Ermessenlenkende Verwaltungsvorschriften steuern das auf der Rechtsfolgenseiteangesiedelte Ermessen (s.o. Rn 208 ff). Zum Ausdruck kommt dies nicht selten bereits in einer Bezeichnung als „Ermessensrichtlinie“[7]. Fraglich ist auch hier, ob eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift stets verbindlich ist für die von ihr erfassten Stellen oder ob Ausnahmen zulässig sind. Mit der Einräumung von Ermessen betont der Gesetzgeber das Erfordernis der Einzelfallgerechtigkeit. Dies spricht dafür, in atypischen Konstellationen eine Abweichung von der Bindungswirkung zuzulassen[8].
5. Gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften
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Schließlich sind auch gesetzvertretende Verwaltungsvorschriften anzutreffen. Sie bezwecken die Steuerung der Verwaltung außerhalb gesetzlicher Regelungen. Ansatzpunkt ist die vermeintlich „gesetzesfreie“ Verwaltung. Bereits an anderer Stelle wurde aber darauf hingewiesen, dass zum einen weite Bereiche der Verwaltungstätigkeit durchnormiert sind und zum anderen auch beim Fehlen einfach-gesetzlicher Handlungsmaßstäbe stets höherrangige Handlungsmaßstäbe zu beachten sind, so etwa der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (s.o. Rn 24).
Teil III Handlungsformen der Verwaltung› § 22 Verwaltungsvorschriften› III. Anforderungen an die Rechtmäßigkeit
III. Anforderungen an die Rechtmäßigkeit
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Regelmäßig werden Verwaltungsvorschriften innerhalb eines Verwaltungsträgers erlassen (zum Begriff s.o. Rn 114f). In solchen Fällen bedarf es keiner Ermächtigungsgrundlage. Vielmehr ergibt sich die Befugnis zum Erlass einer Verwaltungsvorschrift aus der Organisationshoheit der übergeordneten Verwaltungsstelle. Anders verhält es sich bei einer Verwaltungsvorschrift zwischen verschiedenen Verwaltungsträgern. Hier bedarf es einer Ermächtigungsgrundlage, da in den Hoheitsbereich eines anderen Verwaltungsträgers „übergegriffen“ wird. Entsprechende Ermächtigungen finden sich im Verhältnis zwischen Bund und Ländern etwa in Art. 84 Abs. 2 und Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG[9].
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Zudem ist auch beim Erlass von Verwaltungsvorschriften der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu beachten (s.o. Rn 181 f). Nach dem Vorrang des Gesetzesmuss eine Verwaltungsvorschrift in Einklang mit den einschlägigen rechtlichen Vorgaben stehen. Insbes. muss eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift die unbestimmten Rechtsbegriffe zutreffend interpretieren. So dürfte eine Verwaltungsvorschrift zum polizeirechtlichen Begriff der „Gefahr“ diesen nicht dahingehend interpretieren, dass auch eine Gefahrenvorsorge erfasst sei. Der Vorbehalt des Gesetzeshat zur Folge, dass Grundrechtseingriffe nicht auf Verwaltungsvorschriften gestützt werden können, sondern einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedürfen[10].
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Die Verkündungeiner Verwaltungsvorschrift in einem Amtsblatt o.Ä. ist grundsätzlich nicht erforderlich. Denn regelmäßig beschränkt sich die Wirkung einer Verwaltungsvorschrift auf den Binnenbereich. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn eine Verwaltungsvorschrift ausnahmsweise unmittelbare Außenwirkung entfaltet. Dies ist etwa bei normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften der Fall (s.o. Rn 860). Hier korrespondiert mit der unmittelbaren Außenwirkung eine Publikationspflicht[11].
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