3. Materiell-rechtliche Anforderungen
766
Das Erfordernis des § 54 S. 1, dass dem örV Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen dürfen, gilt nicht nur für die Vertragsform als solche, sondern auch für den Inhalt des Vertrags. ÖrVe müssen sich deshalb im Rahmen des durch die Rechtsordnung Erlaubtenbewegen. Die privatrechtliche Vertragsfreiheit gilt nicht. Von der Rechtsordnung missbilligte Leistungen dürfen nicht vereinbart werden[83]. Prinzipiell lässt sich feststellen: Je freier die Behörde über den Regelungsgegenstand entscheiden darf, desto eher kann sie über den Inhalt des örV bestimmen; je gebundener die Verwaltung ist, desto geringer ist ihre Abschlussfreiheit.
767
Entgegenstehende Rechtsvorschriftenkönnen solche in Gesetzen oder Rechtsverordnungen sowie allgemeine Rechtsgrundsätze des öffentlichen Rechts sein. Das Grundgesetz begrenzt mit seinen Aussagen zum Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes, zum Verhältnismäßigkeitsprinzipund zum Willkürverbotdie Vertragsfreiheit in inhaltlicher Hinsicht. Wegen des Prinzips vom Vorrang des Gesetzes scheiden Verwaltungsvorschriften oder Satzungen als inhaltsbegrenzend aus. Ob im Einzelfall eine Rechtsvorschrift dem Vertragsinhalt entgegensteht, ist aus dem Gesamtinhalt des jeweiligen Gesetzes oder einer zusammenhängenden gesetzlichen Regelung zu schließen. Auf ein ausdrückliches Verbot, welches sich gegen einen bestimmten Vertragsinhalt richtet, kommt es nicht an. Sinn, Zweck oder Systematik des Gesetzes müssen ergeben, dass ein Vertragsinhalt nicht dem Recht entspricht.
Für den Vergleichsvertrag nach § 55 und den Ausgleichsvertrag nach § 56 stellt das Gesetz bestimmte Anforderungen inhaltlicher Art auf.
a) Der Vergleichsvertrag
aa) Anwendungsbereich
768
Dem Wortlaut nach gilt § 55 lediglich für subordinationsrechtlicheVerträge i.S.d. § 54 S. 2 (s.o. Rn 741). Gleichwohl besteht die Möglichkeit zum Abschluss eines Vergleichsvertrags als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes auch bei koordinationsrechtlichenVerträgen, sofern Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass es Verwaltungsträgern aus rechtsstaatlichen Gründen grundsätzlich verboten sein sollte, sich bei einem Streit über die Begründung, Änderung oder Aufhebung eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses bei Zweifeln über die Sach- oder Rechtslage im Wege des gegenseitigen Nachgebens vertraglich zu einigen[84]. Allerdings verbleibt es hier grundsätzlich bei den allgemeinen Gesetzesbindungen[85].
769
Der Vergleichsvertrag ist zulässig, wenn eine wirkliche Ungewissheit über Sachverhalt oder Rechtslagezwischen den Vertragsparteien besteht. Einseitige Zweifel reichen nicht. Die Zweifel müssen sich auf ein- und denselben Punkt beziehen. Die Ungewissheit muss zwar vom subjektiven Kenntnisstand der Beteiligten ausgehen. Das Vorhandensein von Ungewissheit muss allerdings „bei verständiger Würdigung“ bejaht werden können. Damit kommt eine objektive Betrachtungder Ungewissheit ins Spiel. Auf der Seite des Bürgers ist die Ungewissheit objektiv vorhanden, wenn seine Würdigung frei von Eigensinn oder törichten Anschauungen ist; für die Behörde wird Ungewissheit objektiv nur dann angenommen werden können, wenn sie auch bei Beachtung der durchschnittlich erwarteten Sach- und Fachkenntnis vorhanden ist. Eine Herabsetzung des Standards hätte für die Behörde die günstige Folge, dass jede gravierende Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt bei der Feststellung der Sach- oder Rechtslage die Möglichkeit zum Abschluss von Vergleichsverträgen böte; der Entscheidungsspielraum der Behörde würde auf diese Weise erweitert. Diese Erweiterung soll das Recht, einen Vergleichsvertrag abschließen zu dürfen, aber gerade nicht gestatten.
770
Die Behörde hat den Sachverhalt von Amts wegenzu ermitteln. Erst dann, wenn alle Möglichkeiten zur Ermittlung des Sachverhalts erschöpft sind und über den Sachverhalt immer noch Ungewissheit besteht, erlaubt das Recht den Abschluss eines Vergleichsvertrags[86]. Eine Ungewissheit der Rechtslageliegt in folgenden Fällen vor[87]: Entweder ist die Rechtslage gesetzlich oder durch die Rechtsprechung nicht oder nicht hinreichend geklärt (es fehlt eine höchstrichterliche Entscheidung, es liegen divergierende Urteile vor); oder der Verwaltungsaufwand steht nach dem von den Parteien erwarteten Maß an verständiger Würdigung der Rechtslage außer Verhältnis zu dem mit der Klärung der Rechtsfrage bewirkten Erfolg. Es wird sogar für zulässig erachtet, einen Vergleichsvertrag zur Bereinigung einer Ungewissheit über die Verfassungsmäßigkeit einer Ermächtigungsgrundlage zu schließen[88].
771
Der Vergleichsvertrag fordert ein gegenseitiges Nachgeben; sein Inhalt ist also ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Standpunkten. Ob ein solches Nachgeben vorliegt, bemisst sich aus der Sicht eines objektiven Betrachters; dass beide Parteien aus ihrer subjektiven Sicht ein – wenn auch nur geringfügiges – Opfer gebracht haben, reicht hingegen nicht aus. Das Nachgeben muss sich nicht unbedingt auf das materielle Recht beziehen, sondern eine Verschlechterung einer Verfahrensposition ist hinreichend. Deshalb kann eine Klagerücknahme oder der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels zum Inhalt des Vergleichsvertrags werden[89].
772
Der Vergleich muss einen ungewissen Zustand beseitigen. Das ist der Fall, wenn die Wirkung des Vertrags darin besteht, dass er konstitutiv Verpflichtungen nach Maßgabe seines Inhalts schafft. Die negative Wirkung des Vertrags besteht darin, den Beteiligten ein Zurückgreifen auf frühere Standpunkte zu versagen, die positive Wirkung darin, diese früheren Standpunkte durch die getroffene Regelung zu ersetzen.
cc) Rechtsfolge: Ermessen
773
Mit Blick auf das Recht zum Abschluss eines Vergleichsvertrags enthält § 55 eine mit einem unbestimmten Rechtsbegriff gekoppelte Ermessensentscheidung. Die Zweckmäßigkeit ist zu bejahen, wenn die Beseitigung der Ungewissheit einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde; dieses ist ein Einzelfallproblem. § 55 dient der Verfahrensökonomieund der Verhältnismäßigkeit; deshalb dürfen die Anforderungen inhaltlicher Art an den Abschluss eines Vergleichsvertrags nicht überspannt werden. Regelmäßig reicht ein atypischer, mit unverhältnismäßigem Aufwand zu klärender Sachverhalt oder eine in besonderem Maße unklare Rechtslage – also ein besonderer Grenz- oder Zweifelsfall[90].
Beispiele
für Vergleichsverträge: Beilegung eines Streits über die Zahlung eines Straßenbeitrags durch einen Grundstückstausch[91]; in atypischen Fällen Beitragsverzicht nach § 135 Abs. 5 BauGB[92]; kein Gegenstandeines Vergleichsvertrags kann der Verzicht eines Bauherrn auf künftige gesetzmäßige Bebauung sein, wenn der Bauherr einen Anspruch auf Genehmigung ohne Gegenleistung hat[93].
b) Der Austauschvertrag
aa) Interessenlage
774
Nach § 56 ist der Abschluss eines Austauschvertrags nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Die Regelung verfolgt einen doppelten Schutzzweck: Sie soll einerseits den mitunter befürchteten „Ausverkauf von Hoheitsrechten“ verhindern, sie soll andererseits Bindungen und finanzielle Belastungen des Bürgers verhüten, die auch unter Berücksichtigung eines Vertragsverhältnisses nicht gerechtfertigt erscheinen[94]. § 56 enthält für die Behörde ein sog. Koppelungsverbot. Darunter versteht man die Verpflichtung einer Behörde, die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben grundsätzlich nicht von unmittelbar „verkoppelten“ wirtschaftlichen Gegenleistungen abhängig zu machen[95]
. Das Koppelungsverbot gilt freilich nur eingeschränkt. Es soll eine sachwidrige Motivation des Verwaltungshandelns verhindern. In der Folge darf nichts durch Austauschvertrag miteinander verknüpft werden, was nicht ohnehin in innerem Zusammenhang steht[96]. In diesem Rahmen ist ein Vertragsabschluss erlaubt, der zum Inhalt hat, dass ein im beiderseitigen Interesse liegender Ausgleich dadurch herbeigeführt wird, dass der Bürger als Vertragspartner bestimmte Leistungsverpflichtungen übernimmt und die Behörde die wegen finanzieller Gründe gegen die vereinbarte Maßnahme bestehenden Bedenken zurückstellt[97]
.
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