Formellwird das interkommunale Rücksichtnahmegebot durch die Behördenbeteiligunggemäß § 4 BauGB (s.o. Rn. 127) abgesichert.
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Wegen des interkommunalen Rücksichtnahmegebots sind alle Belange zu berücksichtigen, die grenzüberschreitende Auswirkungenhaben. Nicht erforderlich ist, dass bereits ein entgegenstehender Bebauungsplan durch die Nachbargemeinde erlassen worden ist oder dass diese Planungsabsichten hinreichend konkretisiert worden sind.[146] § 2 Abs. 2 BauGB ist erweiternd dahin ausgelegt werden, dass es einer (materiellen) Abstimmung – unabhängig davon, ob in der Nachbargemeinde bereits Bauleitpläne oder bestimmte planerische Vorstellungen bestehen - immer dann bedarf, wenn unmittelbare Auswirkungen gewichtiger Artin Betracht kommen.[147]
Beispiel
Das interkommunale Rücksichtnahmegebot ist verletzt, wenn die Gemeinde unmittelbar an der Grenze in der Nachbarschaft eines Wohngebietes einen Schlachthof[148] oder eine Windkraftanlage[149] plant.
Ein Einvernehmenmit anderen Gemeinden ist nichterforderlich. Vielmehr sollen die berechtigten Interessen der Nachbargemeinde zu einer Abstimmung führen. Die Berücksichtigung beachtlicher Interessen der Nachbargemeinde hat dabei im Rahmen der zu treffenden Abwägungsentscheidung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB zu erfolgen.[150]
JURIQ-Klausurtipp
Das interkommunale Rücksichtnahmegebot gemäß § 2 Abs. 2 BauGB ist inhaltlich mit der Abwägungsentscheidung verknüpft: Es stellt eine besondere Ausprägung des Abwägungsgebots dar.[151] In der Fallbearbeitung ist, sofern beachtliche Auswirkungen auf die Bauleitplanung auf das Gebiet einer Nachbargemeinde gegeben sind, diese im Rahmen der Abwägung § 1 Abs. 7 BauGB anzusprechen.
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Durch das EAG Bau 2004 wurde § 2 Abs. 2 BauGB um einen Satz 2 ergänzt. Hiernach können sich die Gemeinden auch auf die ihnen durch Ziele der Raumordnung zugewiesenen Funktionen sowie auf Auswirkungen auf ihre zentralen Versorgungsbetriebe berufen. Dies ist insbesondere bei der Ansiedlung von Factory-Outlet-Centern,[152] die in den umliegenden Gemeinden zu einem nennenswerten Abzug der Kaufkraft führen, von Bedeutung. Ein Abstimmungsbedarf wird bereits ab einem Umsatzrückgang von 10 % angenommen,[153] wobei es sich um eine bloße Faustformel handelt.[154]
3. Gebot der gerechten Abwägung
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Der Gemeinde kommt aufgrund ihrer durch Art. 28 Abs. 2 GG gewährleisteten Selbstverwaltungsgarantie in Form der Planungshoheit(s.o. Rn. 23) ein Planungsermessen(s.o. Rn. 147 ff.) zu. Dies bedeutet, dass die Gemeinde grundsätzlich das Recht hat zu entscheiden, ob und mit welchem Inhalt sie einen Bebauungsplan aufstellt. Die Planungshoheit enthält vor allem Gestaltungsfreiheit. Bedingt dadurch können planerische Festsetzungen im Bebauungsplan nur eingeschränkt gerichtlich überprüftwerden. Die gerichtliche Kontrolle ist auf die Einhaltung der Grenzendes bestehenden Gestaltungsspielraumesoder darauf beschränkt, ob von der Gestaltungsfreiheit in einer Weise Gebrauch gemacht worden ist, die der gesetzlichen Ermächtigung entspricht. Diese gesetzlichen Grenzen ergeben sich insbesondere aus §§ 1 Abs. 5–7 , 1a BauGB.
a) Allgemeine Planungsleitlinien, § 1 Abs. 5 BauGB
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§ 1 Abs. 5 BauGB enthält insgesamt fünf allgemeine Planungsleitlinien.[155] Hiernach sollen die Bauleitpläne
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eine nachhaltige städtebauliche Entwicklunggewährleisten |
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eine dem Wohl der Allgemeinheit entsprechende sozialgerechte Bodennutzunggewährleisten |
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dazu beitragen, eine menschenwürdige Umweltzu sichern |
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dazu beitragen, die natürlichen Lebensgrundlagenzu schützen, auch in Verantwortung für den allgemeinen Klimaschutz |
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dazu beitragen, die städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturellzu erhalten und zu entwickeln. |
Die allgemeinen Planungsleitlinien stellen die grundsätzlichen Anforderungendar, die jede Bauleitplanung aufweisen muss. Sie sind Generalklauseln, die Programmbegriffe mit einem nur schwer zu bestimmenden Wertungsinhalt beinhalten.[156] Es handelt sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die nach h.M. einer uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolleunterliegen.
JURIQ-Klausurtipp
Wegen dieses Charakters kommt den allgemeinen Planungsleitlinien gemäß § 1 Abs. 5 BauGB nur ausnahmsweiseeine Bedeutungfür die Kontrolle eines Bebauungsplanes zu. Vorrangigsind die besonderen Planungsleitlinien gemäß § 1 Abs. 6 BauGB, die die allgemeinen Planungsleitlinien konkretisieren, von Bedeutung.
b) Besondere Planungsleitlinien, § 1 Abs. 6 BauGB
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In § 1 Abs. 6 BauGB, den besonderen Planungsleitlinien,[157] erfolgt eine Konkretisierungder allgemeinen Planungsleitlinien des § 1 Abs. 5 BauGB. Wie aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 6 BauGB („insbesondere“) folgt, enthält der dort aufgeführte Katalog eine beispielhafteund nicht abschließende Aufzählung. Der Katalog hat Bedeutung für die Zusammenstellung der öffentlichen und privaten Belange, die in die Abwägung des § 1 Abs. 7 BauGB einzustellen sind. Inwieweit die Planungsleitlinien zu berücksichtigen sind, lässt sich nicht generell, sondern nur nach den Erfordernissen des Einzelfalls bestimmen. Die verwendeten Begriffe, die die Belange in abstrakter Weise kennzeichnen, stellen unbestimmte Rechtsbegriffedar.[158] Deren Anwendung im Einzelfall unterliegt einer uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle.[159] Der planenden Gemeinde kommt also kein Beurteilungsspielraumzu. Der Reihenfolge der Aufzählungder Belange im Gesetz liegt keine Wertung zu Grunde, so dass kein Vorrang einzelner Planungsleitlinienbesteht.[160] Die abwägungsrelevanten Belange des § 1 Abs. 6 BauGB stehen daher gleichberechtigtund gleichwertignebeneinander.
c) Ergänzende Vorschriften zum Umweltschutz, § 1a BauGB
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Durch die Baurechtsnovelle wurde § 1a BauGB neu gefasst. Die darin enthaltenen Leitlinien konkretisieren die Belange des Umweltschutzes. In der planerischen Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB sind die voraussichtlichen erheblichen Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes sowie die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes zu bewältigen.
d) Abwägungsgebot, § 1 Abs. 7 BauGB
aa) Allgemeine Vorgaben
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Dem Abwägungsgebot gemäß § 1 Abs. 7 BauGB kommt in Klausuren besondere Bedeutung zu. Arbeiten Sie daher die folgenden Ausführungen sehr aufmerksam durch.
Gemäß § 1 Abs. 7 BauGB sind die privaten und die öffentlichen Belange gerecht gegeneinander und untereinander abzuwägen. Aufgrund des Wortlautes unterliegt die Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt das in § 1 Abs. 7 BauGB enthaltene Abwägungsgebot das zentrale Gebot rechtsstaatlicher Planungdar.
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