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a)Die Hilfeleistung muss erforderlichsein, d.h. – nach ex-ante-Beurteilung eines verständigen Beobachters –[28] eine Chance zur Schadensabwehr oder -begrenzung bieten.[29] Einem Verunglückten muss nur dann keine Hilfe geleistet werden, wenn diese von vornherein offensichtlich nutzloswäre.[30]
Merke:
Besteht sichere Aussicht auf sofortige anderweitige ebenso geeignete Hilfe, entfällt daher die Pflicht zur Hilfeleistung.
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Es kommt nicht darauf an, ob die Hilfe Erfolg hat oder haben kann.[31] Schmerzlindernde Hilfemuss auch bei unabwendbarem Tod geleistet werden. Allerdings ist Sinnloses nicht erforderlich, beispielsweise bei bereits eingetretenem oder sofort eintretendem Tod des Hilfsbedürftigen.[32] Die Hilfe muss rechtzeitig, in der Regel sofort oder möglichst schnell, erfolgen[33] und wirksam sein, d.h. bestmöglich.[34] Besonderen Anforderungen unterliegen Ärzte, deren bessere Sachkenntnis Art und Umfang ihrer Hilfe maßgeblich bestimmen kann.[35]
Beispiel:
Arzt A passiert eine Verkehrsunfallstelle. Mehrere Passanten stehen um den erkennbar schwerverletzten B herum. A fährt weiter. Der hinter A fahrende Notar C hält ebenfalls nicht an. Tatsächlich verblutet B bis zum Eintreffen des Notarztwagens an der Unfallstelle, weil die unerfahrenen Ersthelfer seine Blutung nicht sachgerecht abbinden. – Während für C die Erforderlichkeit der Hilfeleistung in Ermangelung besonderen Könnens insoweit abzulehnen ist, gilt für A etwas Anderes. Es bestand aus der Sicht eines verständigen Beobachters keine sichere Aussicht auf anderweitige ebenso geeignete Hilfe, wie sie A aufgrund seiner beruflichen Kenntnisse hätte leisten können.
Vertiefungshinweis:
Umstritten ist, ob eine Hilfeleistung erforderlich ist, wenn der in Gefahr Geratene diese ablehnt. Kann er über das gefährdete Rechtsgut verfügen, ist eine Verpflichtung zur Hilfeleistung mit der zutreffenden Ansicht zu verneinen (vgl. auch den Streitstand unter Rn. 5 ff.).[36] Dies gilt auch dann, wenn der Suizident Rettungsbemühungen vor der Einnahme eines todbringenden Mittels ausdrücklich und unmissverständlich untersagt hat.[37]
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b)Die Zumutbarkeitder erforderlichen Hilfe ist ebenfalls objektives Tatbestandsmerkmal.[38] Dieses bestimmt sich nach einer objektiven Gesamtabwägung, in die namentlich die Gefährdung des Hilfsbedürftigen, eine eventuelle Gefährdung des zur Hilfe Verpflichteten, seine Beziehung zum Bedürftigen, seine Lage zum Unglücksort, seine Verwicklung in das Unglück und alle sonst bedeutsamen Faktoren einzubeziehen sind.[39]
Beispiele:
A macht eine Bergwanderung. Er trifft auf B, der nur unzureichend ausgerüstet unterwegs ist. A erkennt, dass B Erfrierungen erleiden wird, wenn er ihm nicht seine Handschuhe überlässt. Wegen der eisigen Temperaturen fürchtet er allerdings, ohne Handschuhe selbst Schaden zu nehmen und behält sie deswegen für sich. – Die Überlassung der Handschuhe war A nicht zumutbar.
Auch Bergwanderer C trifft auf den sich immer noch in der misslichen Lage befindlichen B. C hat noch ein zweites Paar Handschuhe in seinem Rucksack, will dieses aber B nicht geben, weil er wegen dessen blutenden Handverletzungen befürchtet, dass seine teuren Handschuhe „ruiniert“ werden. – Auch wenn man in Rechnung stellt, dass B sein Unglück eigenverantwortlich verursacht hat, wäre C die Übergabe seiner Handschuhe zumutbar gewesen.
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Die Zumutbarkeit entfällt regelmäßig nicht allein deshalb, weil der Hilfspflichtige sich durch die Hilfe der Gefahr der eigenen Strafverfolgungaussetzt.[40] Jedenfalls dann, wenn der Täter das Unglück fahrlässig,[41] durch Notwehr[42] oder gar vorsätzlich und schuldhaft herbeigeführt hat, entfällt die Zumutbarkeit nicht.[43] Jedoch kann die Gefahr, einen Angehörigendurch die Hilfeleistung der Gefahr der Strafverfolgung auszusetzen, die Zumutbarkeit entfallen lassen.[44] Letztlich ist dies aber stets aufgrund einer Gesamtabwägung für den Einzelfall zu entscheiden.
II. Subjektiver Tatbestand
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Zumindest bedingter Vorsatz ist erforderlich.[45] Bezüglich der Zumutbarkeit der Hilfeleistung reicht die Kenntnis der sie begründenden Umstände aus. Meint also ein Hilfspflichtiger aus tatsächlichen Gründen irrig, die Hilfe sei für ihn unzumutbar, so liegt ein Tatbestandsirrtum (§ 16) vor.
Beispiel:
C hat im Fall Rn. 13vergessen, dass er ein zweites Paar Handschuhe dabei hat. – Irrtum über ein Merkmal des objektiven Tatbestands und daher keine Strafbarkeit nach § 323c Abs. 1.
C. Täterschaft und Teilnahme, Versuch sowie Konkurrenzen
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Für Täterschaft und Teilnahme gelten die allgemeinen Regeln (§§ 25 ff), denen freilich nicht durchweg dieselbe praktische Bedeutung zukommen wird.[46]
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Der Versuchist nicht strafbar. Die Tat ist nach der Rechtsprechung bereits vollendet, wenn der Täter die erste Möglichkeitzur Hilfeleistung ungenutzt lässt.[47] Der Rechtsprechung folgend, will eine Ansicht in der Literatur wegen des sehr frühen Vollendungszeitpunkts die Vorschriften zur tätigen Reue analog anwenden,[48] was aber eine planwidrige Regelungslücke voraussetzen würde, an der es fehlt.[49]
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Ist der Unglücksfall durch ein Delikt des Hilfspflichtigen herbeigeführt worden, so verdrängt dieses den subsidiären § 323c.[50] Bleibt indes unaufklärbar, ob der Täter an der Straftat, die den Unglücksfall herbeigeführt hat, beteiligt war, kann er wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden.[51] Dies gilt auch dann, wenn dem Verletzten noch ein vom Vorsatz des Täters nicht umfasster weiterer Schaden droht.[52] Die §§ 138 und 221 gehen als spezieller vor.[53] Tateinheit (§ 52) kommt oft mit § 142 und § 315b in Betracht.
Vertiefungshinweis:
Hingegen kann § 323c Abs. 2 mit einer Vortat in Tateinheit (§ 52) stehen, da die Rechtsgüter des Hilfsbedürftigen einem weiteren Angriff ausgesetzt werden, der sich zudem gegen eine hilfeleistende Person richtet.
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1. |
Was unterscheidet § 323c Abs. 1 von einem unechten Unterlassungsdelikt? → Rn. 1 |
2. |
Kommt ein Selbsttötungsversuch als „Unglücksfall“ i.S. des § 323c in Betracht? → Rn. 5 ff. |
3. |
Nach welchem Maßstab beurteilt sich, ob die Hilfe erforderlich ist? → Rn. 11 |
4. |
Muss die Hilfeleistung Aussicht auf Erfolg haben? → Rn. 12 |
Aufbauschema (§ 323c Abs. 1)
1. |
Tatbestand a) Objektiver Tatbestand (1) Unglücksfall, gemeine Gefahr oder Not (2) Unterlassen der erforderlichen und zumutbaren Hilfe b) Subjektiver Tatbestand – Vorsatz |
2. |
Rechtswidrigkeit |
3. |
Schuld |
Empfehlungen zur vertiefenden Lektüre:
Leitentscheidungen:BGHSt – GS – 6, 147 – „ Selbsttötungsfall “; BGHSt 11, 135 – „ Ehefraufall “; BGHSt 14, 213 – „ Fahrerfluchtfall “; BGHSt 17, 166 – „ Arztfall “; BGHSt 32, 367 – „Wittig-Fall“ ; BGHSt 39, 164 – „ Brandstiftungsfall “
Aufsätze: Geppert , Die unterlassene Hilfeleistung, Jura 2005, 39; Kargl , Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c). Zum Verhältnis von Recht und Moral, GA 1994, 247; Lenk , Die Strafbarkeit des „Gaffers“ gem. § 323c II StGB, JuS 2018, 229; Seelmann , „Unterlassene Hilfeleistung“ – oder Was darf Strafrecht?, JuS 1995, 281; Scheffler , Zur Strafbarkeit von Gaffern, NJW 1995, 232; Schmitt , Der Arzt und sein lebensmüder Patient, JZ 1984, 866
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