[30]
Bock Jura 2016, 992, 1000.
[31]
BGHSt 33, 100, 104 – „Gastwirtfall“ ; Bock Jura 2016, 992, 1001.
[32]
BGHSt 39, 305, 308 f. – „Notwehrfall“ .
[33]
BGHSt 33, 100, 103 – „Gastwirtfall“ ; a.A. – Vorhersehbarkeit erforderlich – jeweils Roxin/Greco AT I, § 23 Rn. 12; Rönnau JuS 2011, 697, 698; vgl. dazu Montenbruck JR 1986, 138, 139.
[34]
Gottwald JA 1998, 771, 772; Kretschmer Jura 1998, 244, 245 Fn. 19; allgemein Freund JuS 1997, 331.
[35]
Ebenso Rönnau JuS 2011, 697, 699.
[36]
MüKo/ Hohmann § 231 Rn. 30; s. auch SK/ Wolters § 231 Rn. 8.
[37]
BGHSt 33, 100, 104 – „Gastwirtfall“ zum § 224; BGH Urteil vom 2. Oktober 2008 – 3 StR 236/08; kritisch Montenbruck JR 1986, 138, 141: Konsumtion des § 231 Abs. 1 2. Alt.
[38]
BGHSt 14, 132, 136; MüKo/ Hohmann § 231 Rn. 32; SK/ Wolters § 231 Rn. 13.
Teil I: Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit› Kapitel 2. Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit› § 10. Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c)
§ 10. Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c)
Inhaltsverzeichnis
A. Grundlagen
B. Tatbestand
C. Täterschaft und Teilnahme, Versuch sowie Konkurrenzen
D. Kontrollfragen
1
§ 323c Abs. 1 soll mitmenschliche Solidarität in akuten Notlagen sichern.[1] Geschützt werden die in der jeweiligen Situation bedrohten Individualrechtsgüter.[2]
Beachte:
Die Tat ist ein echtes Unterlassungsdelikt. Für seine Verwirklichung ist daher anders als bei unechten Unterlassungsdelikten keine Garantenstellung erforderlich.[3] Die Prüfung des § 323c Abs. 1 ist bei entsprechender Fallgestaltung daher stets in Betracht zu ziehen, wenn eine Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassensdelikt mangels Garantenstellung ausscheidet.
Vertiefungshinweis:
Mit Wirkung vom 30. Mai 2017 ist der Tatbestand der Behinderung von hilfeleistenden Personenals Absatz 2angefügt worden.[4] Danach wird ebenso bestraft, wer in einer der in Absatz 1 bezeichneten Situationen (vgl. Rn. 3 ff.) eine Person behindert, die bereits Hilfe leistet oder dies tun will. Es kann sich um einen „privaten“ Helfer handeln; dieser muss also nicht etwa der Feuerwehr oder einem Rettungsdienst angehören.[5] Behindern setzt eine nicht unerhebliche Störung der Rettungsbemühungen voraus, insbesondere durch den Weg versperrendes „Gaffen“, aber etwa auch durch Beschädigen technischen Gerätes, Blockieren der sog. Rettungsgasse oder Erschweren der Hilfe in Notaufnahmen von Krankenhäusern.[6] Die Vorschrift ist mithin nicht als echtes Unterlassungsdelikt ausgestaltet, kann aber – unter den Voraussetzungen des § 13 – auch durch Unterlassen verwirklicht werden. Erforderlich ist ein zumindest bedingt vorsätzliches Verhalten (vgl. Rn. 15).
B. Tatbestand
I. Objektiver Tatbestand
1. Begründung der Hilfspflicht
2
Die jedermann treffende Hilfspflichtwird durch das Vorliegen eines Unglücksfalls, einer gemeinen Gefahr oder Not ausgelöst.
3
a)Unter Unglücksfallist ein plötzliches Ereignis zu verstehen, das eine erhebliche Gefahr für Personen oder Sachen schafft oder zu schaffen droht,[7] etwa überraschend eintretende Bewusstlosigkeit.[8] Der Begriff der Plötzlichkeit darf dabei nicht zu eng ausgelegt werden.[9] Sie liegt vor, wenn zur Abwendung der Gefahren ein sofortiges Eingreifen geboten ist.[10] Zu den Unglücksfällen zählt auch ein überraschendes Ereignis, bei dem Schaden noch nicht angerichtet ist, aber ernste Gefahr unmittelbar droht, weil andernfalls unter Umständen die Hilfe zu spät kommen würde.[11]
Beispiele:
Unfälle;[12] unmittelbar drohende Gewalttaten;[13] eine sich rasch verschlimmernde Krankheit kann ebenfalls zu einem Unglücksfall werden;[14] dies gilt jedoch nicht für eine sich langsam entwickelnde Krankheit;[15] abgelehnt worden ist ein Unglücksfall auch für leichtere Verletzungen.[16]
Beachte:
Es ist ohne Bedeutung, ob das Ereignis vorsätzlich, fahrlässig oder überhaupt schuldhaft herbeigeführt wird.[17]
4
Auch der Eintritt einer bloßen Sachgefahrgenügt.[18] Jedoch wird sie betreffend die Abwägung, welche Hilfe zumutbar ist, zu einer restriktiven Anwendung des § 323c Abs. 1 führen.
5
Umstritten ist die Frage, ob auch ein Selbsttötungsversuch(stets) als Unglücksfall anzusehen ist, wie dies die Rechtsprechung annimmt.[19]
6
Ein Teil der Literatur vertritt die gegenteilige Auffassung, nach der wegen des Selbstbestimmungsrechts des Menschen grundsätzlich kein Unglücksfall vorliegt.[20]
7
Eine vermittelnde Position nimmt die h.L. ein. Sie hält frei verantwortliche Selbsttötungsversuchenicht für Unglücksfälle, wohl aber diejenigen, bei denen keine überlegte Entscheidung zugrunde liegt.[21]
8
Angesichts des Umstands, dass nach empirischen Erkenntnissen die Mehrzahl der Selbsttötungsversuche von hilfsbedürftigen, verstörten Menschen und nicht von frei verantwortlichen Bilanzsuizidenten unternommen wird,[22] ist die vermittelnde Auffassung der h.L. vorzugswürdig. Sie vermeidet Wertungswidersprüche zu § 216 und wird zudem dem Ausnahmefall der Bilanzselbsttötung ebenso gerecht, wie der „Masse“ der Fälle, in denen ein „Unglück“ vorliegt (vgl. zur Problematik auch § 1 Rn. 20 f.und § 3 Rn. 12). Weil aber regelmäßig für denjenigen, der zu einem Selbsttötungsversuch hinzukommt, nicht erkennbar ist, ob dieser „frei verantwortlich“ oder „nicht frei verantwortlich“ ist,[23] kommt die h.L. zumeist zum selben Ergebnis wie die Rechtsprechung.
Vertiefungshinweis:
Ob das Vorliegen eines Unglücksfalls aus der ex-post-[24] oder ex-ante-Sicht[25] zu beurteilen ist, ist ebenfalls umstritten. Da § 323c jedoch nicht das Vertrauen selbst, sondern nur Individualrechtsgüter schützen will, ist zutreffend mit der h.M. auf die ex-post-Sichtabzustellen. Beide Ansichten dürften aber kaum zu unterschiedlichen Endergebnissen kommen, da es jedenfalls für die Erforderlichkeit der Hilfeleistung auf eine ex-ante-Sicht ankommt (vgl. Rn. 11).
Beispiel:
A sieht den blutüberströmten B an einer einsamen Bushaltestelle liegen. Ob B schon tot ist oder noch lebt und hilfebedürftig ist, ist für A nicht erkennbar. A geht weiter. Tatsächlich war B zu diesem Zeitpunkt schon tot. – Nach der h.M. liegt schon kein Unglücksfall vor, da B keine Gefahr mehr droht. Nach der a.A. liegt zwar ein Unglücksfall vor, jedoch ist Hilfe nicht mehr erforderlich (vgl. Rn. 11). Nach beiden Ansichten ist das Verhalten des A nicht tatbestandsmäßig.
9
b) Gemeine Gefahrwird wie bei § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 definiert (zu den Details vgl. § 35 Rn. 159). Unter gemeiner Notist eine die Allgemeinheit betreffende Notlage zu verstehen, wie beispielsweise eine Überschwemmung.[26]
2. Umfang der Hilfspflicht
10
Die Verpflichtung zur Hilfe, die durch das Vorliegen des Unglücksfalls usw. ausgelöst wird und deren Nichtleistung den Tatbestand ausmacht, findet objektive Grenzen in ihrer Erforderlichkeit und Zumutbarkeit.[27]
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