Beispiel
Der bisherige Lebensgefährte der E kann nicht verwinden, dass diese sich von ihm getrennt hat. So hat er ihr in der Vergangenheit mehrfach sowohl zu Hause als auch auf der Arbeit aufgelauert und sie massiv mit dem Tode bedroht. Aus Angst vor L wagt sich E nicht mehr ohne Begleitung aus dem Haus. Als sie nun nachts ihr Auto aus der Garage holen möchte, um zur Arbeit zu fahren, stellt sie Farbanhaftungen auf dem Garagentor fest. Als sie gemeinsam mit dem sie begleitenden A versucht, mit einem Lappen diese Anhaftungen zu entfernen, tritt L mit einer Pistole in der Hand aus seinem Versteck und gibt mehrere Schüsse auf E und A ab, die den Angriff jedoch überleben.
Hier hat der BGH [30] die Arglosigkeit der E bejaht. Zwar bestand zwischen ihr und L eine feindselige Atmosphäre, die dazu führe, dass E in ständiger Angst lebte. Zum Tatzeitpunkt rechnete sie aber nicht mit einem Angriff des L, was sich schon daraus entnehmen lässt, dass sie in aller Ruhe versuchte, die Farbanhaftungen zu entfernen. Hätte sie damit gerechnet, dass sich L in der Nähe befinde, wäre sie aller Wahrscheinlichkeit nach sofort in ihr Haus zurück gegangen oder aber ins Fahrzeug eingestiegen.
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In engen Ausnahmefällen nimmt der BGH bei der Arglosigkeit eine normativ orientierte, einschränkende Auslegungvor, wenn das Opfer den Täter angegriffen hat, der Angriff zwar schon vollendet aber noch nicht beendet ist und der Täter sich in dieser Situation verteidigt, indem er das Opfer überraschend tötet. Im Interesse des Wertungsgleichklangs mit dem Notwehrrecht gem. § 32, welches dem Täter im Einzelfall eine überraschende Tötung gestatte und damit der Tötung das Tückische nehme, soll nach dem BGH die Arglosigkeit bei normativer Betrachtung verneint werden, auch wenn das Opfer faktisch tatsächlich überrascht war.
Wiederholen Sie an dieser Stelle das Kapitel „Notwehr“ gem. § 32 aus dem Skript „Strafrecht AT I“.
Beispiel
A, der mit Raubkopien handelt, wird von B deswegen erpresst. Eines Tages kommt B in Begleitung des C zu A und fordert ihn erneut zur Zahlung von 5000 € auf. Nach entsprechenden Drohgebärden übergibt A das Geld an C, da er glaubt andernfalls von B angezeigt zu werden. Motiviert durch extreme Wut über den Verlust des Ersparten tritt A danach hinter den B, der zu diesem Zeitpunkt die Hände in den Hosentaschen hat, und schlitzt ihm mit einem Messer die Halsschlagader auf.[31]
Hier könnte sich A wegen heimtückischen Mordes gem. §§ 212, 211 an B strafbar gemacht haben, indem er ihm von hinten das Messer über den Hals zog.
Dann müsste B arg- und wehrlos gewesen sein. Tatsächlich rechnete B zu diesem Zeitpunkt nicht mit einem Angriff, so dass er arglos gewesen sein könnte. Der BGH hat allerdings ausgeführt, dass das Verletzen mit dem Messer eine Handlung sein könnte, die gem. § 32 gerechtfertigt ist. Zu diesem Zeitpunkt bestand der Angriff des B (§§ 253, 255) auf das Vermögen des A noch fort, da die Erpressung zwar schon vollendet, aber noch nicht beendet war. Der Angriff des B war auch rechtswidrig. Damit bestand eine Notwehrlage gem. § 32, die grundsätzlich auch eine Tötung gem. §§ 211, 212 erlaubt. Der BGH hat ausgeführt, dass in einer solchen Situation der „wahre“ Angreifer, also B, immer mit einer erlaubten Verteidigungshandlung des Angegriffenen rechnen müsse. Sofern die Verletzung die erforderliche und gebotene Verteidigung gewesen wäre, wäre A sogar gerechtfertigt gewesen. Der BGH hat dementsprechend unter Einbeziehung der Wertungsgesichtspunkte des § 32 („erlaubtes Verhalten“) die Arglosigkeit des B verneint.
Hinweis
Der BGH hat dabei deutlich gemacht, dass es nicht erforderlich ist, dass die Handlung auch tatsächlich gem. § 32 gerechtfertigt ist. Er führt vielmehr aus, dass es bei wertender Betrachtung nicht systemgerecht sei, „dem sich wehrenden Opfer, wenn es in der gegebenen Lage … in den Randbereich der erforderlichen und gebotenen Verteidigung gerät oder gar exzessiv handelt, das Risiko aufzulasten, bei Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung oder auch der Entschuldigung sogleich das Mordmerkmal der Heimtücke zu verwirklichen.“ [32]
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In der Literatur ist diese Entscheidung teilweise auf Ablehnung gestoßen.[33] Es wird darauf hingewiesen, dass der BGH durch diese normative Auslegung, wie die negative Typenkorrektur, die er ablehnt, eine wertende Gesamtbetrachtungvorgenommen habe, die zu einer Fiktion des Argwohns führt.
JURIQ-Klausurtipp
In der Klausur müssen Sie diese neue BGH -Rechtsprechung diskutieren, nachdem Sie festgestellt haben, dass das Opfer tatsächlich „überrascht“ war. Sie müssen nun danach fragen, ob dies für die Annahme der Arglosigkeit ausreicht. Bei der nun folgenden Diskussion ist es unerlässlich, vorweggenommen die Voraussetzungen des § 32 ,jedenfalls die Notwehrlagezu prüfen.
Eine Ausdehnungdieser einschränkenden, normativen Auslegung auf eine Tötungshandlung, die der Täter bei einem Zustand der Dauergefahr gem. § 34vornimmt, hat der BGH allerdings in einer späteren Entscheidung abgelehnt.[34]
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Wehrlosist derjenige, der infolge seiner Arglosigkeit zur Verteidigung außer Stande oder in der Verteidigung stark eingeschränkt ist.
Arg- und Wehrlosigkeit müssen zusammentreffen, damit die heimtückische Tötung verwirklicht ist.[35]
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Obwohl die Grausamkeit eine subjektive Komponente enthält, ist sie nach allgemeiner Auffassung ein objektives Mordmerkmal. Strafgrund sind die besonderen Qualen, denen das Opfer ausgesetzt ist und die darin zum Ausdruck kommende Gesinnung des Täters.
Grausamtötet, wer aufgrund einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung seinem Opfer besonders schwere Qualen körperlicher oder seelischer Art durch eine über das normale Tötungsmaß hinausgehende Schmerzzufügung bereitet.[36]
Beispiel
Der geistig gestörte A fesselt seinen 70-jährigen Vater so ans Bett, dass dieser sich weder bewegen noch selbst befreien kann. In dieser hilflosen Lage lässt er ihn in seinen eigenen Exkrementen liegen und verdursten.
Darüber hinaus wurden als grausame Tötungen angesehen: Verbrennen, Foltern, mehraktige Tötungshandlungen mit besonders gravierenden Leiden des Opfers.[37]
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Beachten Sie, dass jede Tötung im Normalfall mit Schmerzen verbunden ist. Damit ein Totschlag zum Mord wird, muss der Täter dem Opfer besonders intensive Schmerzen oder Qualenzufügen. Die Grausamkeit muss ferner die mit Tötungsvorsatz vorgenommene Handlung charakterisieren. Hat der Täter zunächst ohne Tötungsvorsatz sein Opfer grausam körperlich misshandelt und alsdann ohne neue Grausamkeit getötet, so scheidet das Mordmerkmal aus.
3. Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln
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