Ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit kann auch in Fällen vorliegen, in denen der Täter es geradezu darauf anlegt, die Arglosigkeit des Opfers zu beseitigen, dieses sich aber ersichtlich nicht durch den Täter einschüchtern lässt, was dieser auch erkennt.
Beispiel
R, der es psychisch nicht verkraften kann, dass seine Freundin F sich von ihm getrennt und einen neuen Freund hat, sucht F wiederholt auf, um sie im Zuge von lautstarken verbalen Auseinandersetzungen unter anderem dafür in die Verantwortung zu nehmen, dass F ihn finanziell ausgenutzt habe. Bei einem verabredeten Treffen mit F und dem neuen Freund im Büro des R, bei dem es um einen finanziellen Ausgleich gehen soll, schließt R die Türe des Büros ab und bedrängt F im Laufe der heftigen Auseinandersetzung mehrfach mit einer Waffe. F, die glaubte, dass R ihr niemals etwas antun könne, bleibt jedoch gelassen und erklärt schließlich nach einem erneuten Wutanfall des R, bei dem dieser ihr die Waffe an den Kopf hält: „Rolf, dann musst Du tun, was Du tun musst“. Daraufhin erschießt R die F.
Der BGH [18] hat deutlich gemacht, dass für das bewusste Ausnutzen lediglich erforderlich sei, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in dem Sinne erfasst habe, dass dem Täter bewusst sei, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (Betonung des kognitiven Elementes). Nicht erforderlich sei hingegen, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit instrumentalisieren oder anstreben muss – es muss ihm also nicht darauf ankommen (voluntatives Element im Sinne einer „Absicht“), einen arg- und wehrlosen Menschen zu töten.
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Ferner hat der BGH durch das weitere, subjektive Erfordernis der „feindseligen Willensrichtung“in der Vergangenheit eine Einschränkung bei den sog. „Mitleidsmorden“ gemacht, bei denen der Täter zum vermeintlich Besten des Opfers handeln will.[19] Beachten Sie aber, dass diese Fälle abzugrenzen sind von den sog. „Todesengel“-Fällen, bei denen die Täter sich zu Herrschenden über Leben und Tod aufschwingen. Bei den Mitleidsmorden geht der Täter davon aus, dass das Opfer selber die Tötung wolle, um nicht länger leiden zu müssen. Bei den „Todesengel“-Fällen glaubt der Täter hingegen, dass unabhängig vom Willen des Opfers das Leben des Opfers seiner eigenen Auffassung nach nicht mehr lebenswert sei. In diesen Fällen kann u.U. eine Tötung aus niedrigen Beweggründen in Betracht kommen.[20]
Schließlich bleibt bei außergewöhnlichen Fällen noch die oben dargestellte Möglichkeit der Herabsetzung des Strafrahmens („Rechtsfolgenlösung“).
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Arglosist, wer sich zum Zeitpunkt der Tat keines tätlichen Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit oder sein Lebens versieht.[21]
Voraussetzung hierfür ist zunächst die Fähigkeit zum Argwohn.Sie fehlt nach herrschender Meinung bei kleinen Kindern,[22] da diese noch keinen Argwohn empfinden und mithin auch nicht arglos sein können. Eine heimtückische Tötung kommt hier allerdings in Betracht, wenn der Täter die Arglosigkeit eines schutzbereiten Drittenplanmäßig berechnend zur Tötung ausnutzt.[23] Voraussetzung dafür ist aber, dass der Dritte seinen Schutz wirksam erbringen kann, wofür eine gewisse räumliche Nähe erforderlich aber auch ausreichend ist.[24]
Beispiel
A möchte sich von der Verpflichtung befreien, die ihm dadurch entstanden ist, dass seine Ex-Freundin F überraschend schwanger wurde und einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hat. Er spielt der zunächst skeptischen F erfolgreich vor, dass er es sich anders überlegt habe und sich nunmehr auf seine Vaterrolle freue. Er erklärt ihr, dass sie sich ruhig einmal einen schönen Nachmittag mit ihren Freundinnen machen könne, er werde verantwortungsvoll auf das Kind aufpassen und so eine engere Beziehung zu dem Kind entwickeln. Während F erleichtert und freudig zum Kaffeeklatsch geht, erstickt A das Neugeborene mit einem Kissen und ruft dann „verzweifelt“ den Arzt, dem er erklärt, dass sein Sohn wohl am plötzlichen Kindstod gestorben sei.
Hier hat A planvoll und berechnend die Arg- und damit einhergehende Wehrlosigkeit der Freundin F zur Tötung des Kindes ausgenutzt und damit eine heimtückische Tötung begangen.
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Der BGH hat jedoch in einem Fall, in dem ein kleines Kind dadurch vergiftet wurde, dass ein bitter schmeckender Giftstoff, welchen das Kind ausgespuckt hätte, mit süßem Brei vermischt wurde, ebenfalls eine heimtückische Tötung angenommen, obgleich er im Übrigen daran festhält, dass bei Kleinstkindern infolge der Unfähigkeit zum Argwohn eine Arglosigkeit nicht vorliegen könne.[25] Der BGH hat diese Entscheidung damit begründet, dass in diesem Fall der Täter extra um die Abwehrinstinkte des Kindeszu überwinden, den Giftstoff in den süßen Brei gemischt habe und damit tückisch vorgegangen sei. Diese Entscheidung ist wenig überzeugend, da der Täter lediglich natürliche Abwehrinstinkte zu überwinden versucht hat, nicht jedoch bewusst eine Arglosigkeit ausgenutzt hat, da Kinder in diesem Alter nicht zum Argwohn fähig sind.
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Auch die Tötung eines plötzlich Bewusstlosenstellt keine heimtückische Tötung dar, da ein Bewusstloser nicht arglos sein kann. Anders ist es bei einem Schlafenden. Auch wenn dieser zum Zeitpunkt des Schlafes nicht zum Argwohn fähig ist und damit auch nicht arglos sein kann, so ist er es doch in dem Augenblick, in welchem er sich in den Schlaf hinein begibt. Nach herrschender Ansicht nimmt der Schlafende die Arglosigkeit mit in den Schlaf, das heißt, er geht zum Zeitpunkt des Einschlafens davon aus, dass ihm im Schlaf nichts passieren werde. Im Gegensatz dazu nimmt der plötzlich Besinnungslose die Arglosigkeit nicht mit in die Besinnungslosigkeit, da er im Normalfall nicht wissen kann, dass er im nächsten Augenblick besinnungslos werden wird.[26] Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann es ausnahmsweise auch bei einem Schlafenden an der Arglosigkeit fehlen, wenn er gleichsam „vom Schlaf übermannt“ wird.[27]
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Wichtig ist, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Tatbegehung, also bei Eintritt der Tat in das Versuchsstadiumarglos ist. Arglosigkeit kann dann nicht vorliegen, wenn der Täter dem Opfer offen feindselig gegenüber tritt (es sei denn, dass Opfer nimmt den Täter nicht ernst, vgl. dazu das Beispiel unter Rn. 45). Allerdings ist hier der Zeitpunkt von großer Bedeutung. Erfolgt die feindselige Konfrontation so kurz vor der Tötungshandlung, dass das Opfer keine Zeit mehr hat, entsprechend zu reagieren, so kann die Arglosigkeit bejaht werden.[28] Gleiches gilt, wenn die Aggression schon länger zurückliegt, so dass das Opfer zum Tatzeitpunkt nicht mit einem Angriff rechnet.
Beispiel
Der lebensmüde A fährt des Nachts ohne Abblendlicht in entgegengesetzter Richtung auf der Autobahn, um sich bei einer Kollision zu töten. Das Abblendlicht hat er ausgeschaltet, um von den entgegenkommenden Fahrzeugen nicht erkannt zu werden und so seine Erfolgsaussichten zu erhöhen. Aufgrund eines spontanen Impulses schaltet er jedoch das Licht just zu dem Zeitpunkt ein, als B ihm auf seiner Fahrspur entgegen kommt. B erkennt zwar aufgrund dessen A noch, kann aber nicht mehr reagieren, so dass es zu einer für B tödlichen Kollision kommt. Den Tod des B nimmt A dabei zumindest billigend in Kauf.[29]
Hier war B zwar zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes nicht mehr arglos. Die Arglosigkeit lag aber vor, als die Tat in das Versuchsstadium eintrat. Aufgrund der unmittelbar nachfolgenden Kollision blieb B keine Möglichkeit mehr, den Angriff abzuwehren, so dass A sich des heimtückischen Mordes schuldig gemacht hat.
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