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Innerhalb des Rechts der Europäischen Union bildet die EMRK lediglich eine Rechtserkenntnisquelle (Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 S. 1 EUGrCh)[191], solange die Europäische Union nicht der EMRK beigetreten ist.[192] Vgl. zum Konzept der Rechtserkenntnisquelle oben Rn. 2.
E. Verwaltungsvorschriften
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Unter einer Verwaltungsvorschrift werden unter anderem solche abstrakt-generellen Regelungen verstanden, die von der Exekutive erlassen werden, um die Verwaltungstätigkeit von nachgeordneten Behörden bzw. von deren Bediensteten zu vereinheitlichen.[193] Verwaltungsvorschriften stellen im Allgemeinen nur Rechtsquellen im weiteren Sinne dar[194], da sie grundsätzlich keine Bindungswirkung für den Rechtsanwender entfalten.
II. Katalog der Verwaltungsvorschriften
1. Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV)
a) Rechtsnatur und Geltung
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Die RiStBV[195] gehen zurück auf eine Übereinkunft zwischen dem Bundes- und den Landesjustizministern und gelten bundeseinheitlich.[196] Primär enthalten sie Ausführungen zur staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit[197], indem sie die gesetzlichen Regelungen konkretisieren.[198] Soweit ein Widerspruch zwischen den RiStBV und einer Gesetzesnorm bestehen sollte, geht Letztere stets vor.[199] Wie in der Einführung der RiStBV explizit dargelegt wird, entfalten sie keine strikte Bindungswirkung[200], stellen jedoch zumindest Hinweise dar, die für den Regelfall gelten.
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Die RiStBV umfassen einen Allgemeinen Teil (mit Abschnitten zu Vorverfahren, Anklage, Hauptverfahren etc.) und einen nach Deliktsarten systematisierten Besonderen Teil.
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Als Anlagen zu den RiStBV sind weitere Verwaltungsvorschriften normiert, von den vor allem Folgende strafprozessuale Relevanz aufweisen:
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Richtlinien über die Inanspruchnahme von Publikationsorganen zur Fahndung nach Personen bei der Strafverfolgung (Anlage B). |
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Gemeinsame Richtlinien über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung (Anlage D). |
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Gemeinsame Richtlinien über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität (Anlage E). |
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Richtlinien über die internationale Fahndung nach Personen, einschließlich der Fahndung nach Personen im Schengener Informationssystem (Anlage F). |
2. Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra)
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Die MiStra[201] beruht auf einer Übereinkunft des Bundes- und der Landesjustizminister und gilt bundeseinheitlich.[202] Diese Verwaltungsvorschrift steht im Kontext mit den §§ 12 ff. EGGVG, die allgemein die verfahrensübergreifende Übermittlung personenbezogener Daten regeln.[203] Die MiStra erfasst die Unterrichtung anderer Behörden und Stellen[204] über im Einzelfall relevante Strafsachen (z.B. die Mitteilung in Fahrerlaubnissachen gemäß Nr. 45 MiStra).
3. Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz (RiJGG)
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Die bundeseinheitlich geltenden RiJGG enthalten unter anderem Ausführungen bezüglich der strafverfahrensrechtlichen Teile des JGG. Die RiJGG normieren Empfehlungen an das Gericht und geben der Staatsanwaltschaft Anleitungen für den Regelfall, von denen im Einzelfall abgewichen werden kann.[205] Bei Verfahren, die zur Zuständigkeit der Jugendgerichte gehören, finden die RiStBV (im Verhältnis zu den RiJGG) nur subsidiäre Anwendung.[206]
4. Strafvollstreckungsordnung (StVollstrO)
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Die StVollstrO gilt einheitlich im Bundesgebiet und basiert auf einer Übereinkunft zwischen dem Bundesjustizministerium und den Landesjustizverwaltungen.[207] Nach § 1 Abs. 1 StVollstrO gilt diese Verwaltungsvorschrift unter anderem für die Vollstreckung von Urteilen und ihnen gleichstehenden Entscheidungen, die auf eine Strafe, Nebenstrafe, Nebenfolge oder Maßregel der Besserung und Sicherung lauten.
5. Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiVASt)
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Die einheitlich für den Bereich des Bundes und der Länder geltenden RiVASt erfassen unter anderem den Rechtshilfeverkehr mit ausländischen Behörden (Nr. 1 ff. RiVASt).[208]
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Im Regelfall stellt Richterrecht keine klassische Rechtsquelle des Strafverfahrensrechts dar. Lediglich in speziell geregelten Ausnahmefällen entfalten gerichtliche Entscheidungen eine unmittelbare Bindungswirkung für die weitere strafprozessuale Rechtsanwendung. Zu nennen sind etwa die folgenden Regelungen:
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§ 358 Abs. 1 StPO, dem zufolge ein unterinstanzliches Gericht, an welches eine Strafsache nach erfolgreicher Revision verwiesen wird, seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen hat.[209] |
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§ 31 Abs. 1 BVerfGG, wonach grundsätzlich[210] eine Bindung aller Gerichte und anderer Einrichtungen an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts besteht.[211] |
Jenseits dieser Fälle kann eine Rechtsprechung üblicherweise nur dann Rechtsquellenstatus entfalten, wenn sie sich zu Gewohnheitsrechtverdichtet hat[212]; jedoch ist die Bejahung des Vorliegens von Gewohnheitsrecht an strenge Voraussetzungen geknüpft[213], sodass derartige Konstellationen im Strafverfahrensrecht höchst selten sein dürften.[214] Eine weitere Besonderheit gilt für Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR ), denen durch das Bundesverfassungsgericht und den Bundesgerichtshof eine spezifische Bedeutung für die Anwendung deutschen Rechts beigemessen wird. (Vgl. hierzu oben Rn. 17).
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In sonstigen Fällenstellen gerichtliche Entscheidungen regelmäßig keine Rechtsquelle im engeren Sinnedar[215], da sie keinerlei strikte Bindungswirkung für die weitere Rechtsanwendung entfalten. Gegen die Annahme einer Bindungswirkung spricht bereits die positivrechtliche Überlegung[216], dass die genannten spezialgesetzlichen intergerichtlichen Bindungsnormen andernfalls ebenso überflüssig wären wie gesetzliche Vorschriften zur materiellen Rechtskraftwirkung einer Gerichtsentscheidung.[217] Ein striktes Präzedenzverständnis ist der deutschen Rechtsordnung demnach grundsätzlich fremd.[218] Wie Hassemer zutreffend ausführt, werden frühere richterliche Entscheidungen „nicht unbesehen als Geltungsgrund einer neuen, heutigen Sachverhaltsentscheidung“ in Bezug genommen, „sondern nur nach einer methodologischen Übersetzung auf den neuen Fall und in den derzeitigen Entscheidungshorizont“.[219] Aus einer bloß chronologischen Priorität eines Judikates kann demnach kein normativer Vorrang gegenüber späteren justiziellen Entscheidungen hergeleitet werden.[220]
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Allerdings lassen sich zumindest die Rechtssätze der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung als Rechtserkenntnisquellenklassifizieren. Hierfür spricht bereits der rein tatsächliche Umstand, dass derartige Rechtssätze in späteren Entscheidungen desselben Gerichts oder anderer Gerichte häufig in Bezug genommen werden.[221] Sicherlich sind derartige Referenzen mitunter dem bloßen praktischen Bedürfnis eines gerichtlichen Rechtsanwenders geschuldet, eine Entscheidung zu verfassen, die im Einklang mit der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung steht und deshalb als rechtsmittelfest gilt.[222] Allerdings dürfte diese praktische Erwägung keineswegs der einzige Grund sein. Vielmehr sind die genannten Referenzen im Hinblick auf das Prinzip der Rechtssicherheit auch durchaus geboten: Ebenso wie die Wissenschaft besitzt die Rechtsprechung eine ausgeprägte normative Bedeutung für die Präzisierung strafprozessualer Normen. Hinzu kommt, dass im Strafverfahrensrecht kein striktes Gesetzlichkeitsprinzip nach Art. 103 Abs. 2 GG gilt[223], sodass etwa auch Analogien zulässig sein können[224], wodurch die Bedeutung der Rechtspraxis für die Rechtsgenese nochmals erhöht werden dürfte.
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