Die wiederkehrenden, oft wahltaktisch motivierten – und teils gelungenen – Versuche konservativ regierter Bundesländer, das Jugendstrafrecht wenn nicht abzuschaffen, sondern doch erheblich zu verschärfen („Warnschussarrest“ parallel zur Bewährung, Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters, Erwachsenenstrafrecht für Heranwachsende), stehen nicht nur in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben,[12] sondern auch zu entwicklungspsychologischen und kriminologischen Erkenntnissen.[13]
[1]
Albrecht Jugendstrafrecht, S. 47 ff.; Schumann u.a. Jugendkriminalität, S. 161 ff.; Dölling ZJJ 2012, 124; Löhr ZRP 1997, 280.
[2]
Löhr ZRP 1997, 280.
[3]
Löhr ZRP 1997, 280.
[4]
Schaffstein/Beulke/Swoboda Jugendstrafrecht, Rn. 740: zwischen 61 % in Bayern und 86 % in Hamburg (für das Jahr 2012), w. N. unten, Rn. 153.
[5]
Spiess in: DVJJ (Hrsg.): Jugend ohne Rettungsschirm, S. 421 (434 f.); ältere Zahlen bei Heinz DVJJ 1998, 245.
[6]
Die Zahlen schwanken etwas, je nachdem, welche Bezugsjahre gewählt werden. Obige Zahlen sind der vom BMJV in Aufrag gegebenen und 2014 veröffentlichten bundesweiten Rückfalluntersuchung „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen“ entnommen, die den Bezugszeitraum der Jahre 2004 bis 2010 abbildet; vgl. weiter Schaffstein/Beulke/Swoboda Jugendstrafrecht, Rn. 73 f.; Sonnen ZJJ 2004, 357.
[7]
Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 553, 562.
[8]
Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 564.
[9]
Albrecht H.-J. Gutachten; ders. NJW-Beilage 23/2002, 26 ff.; Löhr ZRP 1997, 280; zurückhaltender Brunner/Dölling JGG, 8 zu Einf.
[10]
Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 564 ff.
[11]
Bannenberg DVJJ-Journal 1995, 63; Walter DVJJ-Journal 1994, 120; zum Subsidiaritätsgrundsatz noch unten, Rn. 44.
[12]
BVerfG NJW 2006, 2093 (2095).
[13]
Ostendorf NStZ 2006, 320; AG Jugendkriminalprävention DVJJ ZJJ 2006, 451; Kreuzer ZRP 2012, 101.
Teil 2 Materielles Jugendstrafrecht
Inhaltsverzeichnis
I. Grundzüge des JGG
II. Verantwortungsreife
III. Rechtsfolgen einer Jugendstraftat
IV. Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende
V. Straftaten in unterschiedlichen Alters- und Reifestufen
Teil 2 Materielles Jugendstrafrecht› I. Grundzüge des JGG
Teil 2 Materielles Jugendstrafrecht› I. Grundzüge des JGG› 1. Bedeutung des Erziehungsgedankens
1. Bedeutung des Erziehungsgedankens
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Während Fehlverhaltensweisen und Fehlentwicklungen von Kindern unter 14 Jahren nur mit den Angeboten des Jugendhilferechts[1] und den Eingriffsmöglichkeiten des Familien- und Vormundschaftsrechts (§ 1666 BGB) begegnet werden kann, tritt für Jugendliche ab 14 Jahren das „Erziehungsstrafrecht“neben das Jugendhilferecht. § 12 JGG verbindet Jugendstrafrecht und Jugendhilferecht, wenn dort Erziehungsbeistandschaft (§ 30 SGB VIII) und Heimerziehung (§ 34 SGB VIII) als Erziehungsmaßregeln angeordnet werden dürfen. Deshalb soll nach der Intention des Gesetzgebers der Jugendrichter nach Möglichkeit zugleich auch Vormundschaftsrichter sein (§ 34 Abs. 2 Satz 1 JGG), wobei diese Aufgabenverbindung in der Praxis eher die Ausnahme darstellt.
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§ 2 Abs. 1 JGG normiert an zentraler Stelle das Ziel der Anwendung des Jugendstrafrechts: Es soll „erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken“. Der Erziehungsgedanke, der auch in §§ 5, 18 Abs. 2, 21 Abs. 1 JGG zum Ausdruck kommt, ist dabei Grund, Rechtfertigung und Grenze für die Anwendung des Jugendstrafrechts. Zwar ist Aufgabe des Jugendstrafrechts auch der Schutz der Allgemeinheit vor Straftätern. Die Erziehung ist aber nach dem Willen des Gesetzgebers das zur Zweckerreichung einzusetzende Mittel. Es geht um „Erziehung zum Legalverhalten“. Die „Erziehungsstrafe“ soll die Allgemeinheit dadurch vor weiteren Straftaten des jungen Angeklagten schützen, dass auf ihn mit den besonderen, erzieherisch ausgestalteten Einwirkungsmöglichkeiten des JGG Einfluss ausgeübt wird. Das Jugendstrafrecht hat in all seinen Anwendungsbereichen Vorrang vor dem Erwachsenenstrafrecht (§ 2 JGG). Die Person des Beschuldigten, die Möglichkeiten seiner erzieherischen Beeinflussung im Sinne künftigen Legalverhaltens stehen im Vordergrund, nicht dagegen die Verteidigung der Rechtsordnung. Generalpräventive Zwecke im Sinne der Abschreckung anderer potentieller Täter dürfen im Rahmen der jugendstrafrechtlichen Sanktionsfindung nicht verfolgt werden.[2] Das Jugendstrafrecht ist grundsätzlich spezialpräventiv ausgerichtet.[3]
Diese Zielsetzung steht nicht im Belieben des Gesetzgebers. Strafrecht und Strafvollzug müssen nach der Entscheidung des BVerfG vom 31.5.2006 wegen Art. 1 Abs. 1, 6 Abs. 2 u. 3 GG auf die besondere Situation junger Menschen Rücksicht nehmen. Es heißt dort:
„Jugendliche befinden sich biologisch, psychisch und sozial in einem Stadium des Übergangs, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten, häufig auch in der Aneignung von Verhaltensnormen, verbunden ist. Zudem steht der Jugendliche noch in einem Alter, in dem nicht nur er selbst, sondern auch andere für seine Entwicklung verantwortlich sind. Die Fehlentwicklung, die sich in gravierenden Straftaten eines Jugendlichen äußert, steht in besonders dichtem und oft auch besonders offensichtlichem Zusammenhang mit einem Umfeld und Umständen, die ihn geprägt haben … Ein der Achtung der Menschenwürde und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens verpflichteter Strafvollzug muss diesen Besonderheiten, die jedenfalls bei einem noch jugendhaften Entwicklungsstand größtenteils auch auf Heranwachsende zutreffen, Rechnung tragen.“[4]
Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht wird allerdings immer wieder auch kritisiert, weil junge Beschuldigte unter Berufung auf angeblich erzieherische Notwendigkeiten manchmal härter bestraft werden als Erwachsene. So werden insbesondere wiederholt begangene Bagatelldelikte aus vermeintlicher „erzieherischer Konsequenz“ oder um „die erforderliche erzieherische Einwirkung“ zu ermöglichen (§ 18 Abs. 2 JGG) bei Jugendlichen härter geahndet als bei Erwachsenen. Problematisch ist auch, dass der Jugendliche im Jugendgerichtsverfahren nicht nur eine Verurteilung seines Tatverhaltens, sondern oft darüber hinaus eine Herabsetzung seiner Person erlebt, wenn ihm unter Berücksichtigung seines sonstigen Verhaltens und seiner Lebenssituation z.B. „schädliche Neigungen“ i.S.d. § 17 Abs. 2 JGG nachgesagt werden. Vorschriften, welche die erzieherische Qualität des Jugendstrafverfahrens sichern, gibt es nur im Bereich der Jugendhilfe (§ 52 SGB VIII), für die übrigen Verfahrensbeteiligten höchstens als unverbindliche Sollvorschriften (§§ 35 Abs. 2 Satz 2, 37 JGG). Der Beginn des Strafverfahrens – regelmäßig entsteht der erste Kontakt zur Kriminalpolizei – ist im JGG überhaupt nicht geregelt und schon gar nicht erzieherisch gestaltet. Alle diese Feststellungen münden in die zugespitzte Behauptung, das Jugendstrafrecht sei kein Segen, sondern eine Strafe für die Jugend.[5] In seinem Gutachten für den 64. Deutschen Juristentag 2002 schlug deshalb H.-J. Albrecht zwar einerseits die Beibehaltung der Strafmündigkeitsgrenze von 14 Jahren und die generelle Einbeziehung von Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht vor, wollte aber anderseits den teils nichtssagenden, teils in seinen Auswirkungen schädlichen Erziehungsgedanken als Grundlage des Jugendstrafrechts und als Leitlinie für die Bemessung von jugendstrafrechtlichen Sanktionen ganz aufzugeben und ersetzen durch die Anerkennung einer regelmäßig geringeren Schuld junger Täter, verbunden mit einem geringeren Normstabilisierungsbedürfnis, die Anwendung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Berücksichtigung der schädlichen Folgen insbesondere von freiheitsentziehenden Sanktionen bei Jugendlichen und Heranwachsenden,[6] hat sich mit diesem Vorschlag aber nicht durchgesetzt.
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